Ai no borei (Im Reich der Leidenschaft)

Ōshima Nagisa

6. bis 30. November 2009

 
Ein Vierteljahrhundert lang war Ōshima Nagisa der weltweit meist gefeierte moderne Filmemacher Japans, eine Ikone der kulturellen Aufbrüche in den 60er und 70er Jahren: Im Westen sah man in ihm einen fernöstlichen Godard, in Japan einen Wortführer der jungen Generation, die den Generalaufstand probte und die öffentlichen Debatten prägte. Sein Kino nutzte „Sex & Crime“, um gegen die ­Heuchelei und den Konsens-willen der ­japanischen Gesellschaft anzukämpfen. Nach seiner subversiven Buñueliade Max mon amour (1986) wurde es jedoch still um ihn: Er konnte nur noch zwei Dokumentarfilme für die BBC sowie 1999 ein gewaltiges Altersmeisterwerk realisieren: Gohatto (Tabu) – ein Samurai-Film mit Takeshi Kitano (und homosexuellem Subtext). Da Ōshima nach einem Schlaganfall im Februar 1996 nur bedingt in der Lage war, die Strapazen eines Drehs durchzustehen, stand ihm ­dabei sein Sohn zur Seite.
 
Mittlerweile muss man Ōshima regelrecht wiederentdecken. Nur wenige seiner Werke – Nackte Jugend (1960), Im Reich der Sinne (1976) oder Merry Christmas, Mr. Lawrence (1983) – sind heute noch zu sehen: drei Augenblicke aus einem unermesslich ­reichen, vor produktiven Widersprüchen strotzenden Œuvre, das 20 Jahre lang nahezu verborgen blieb. Die Retrospektive mit größtenteils neuen Kopien ist dementsprechend nicht nur eine kleine Sensation, sondern auch eine riesige Chance: Ōshimas Kino ist ungleich vielgestaltiger und faszinierender, experimentierfreudiger und unterhaltsamer, als es seine bisherige Wahrnehmung ahnen lässt.
 
Ōshima Nagisa, 1932 in Kyōtō als Spross eines Schwertadelsgeschlechts geboren, landete eher durch Zufall beim Film: Nach ­Abschluss seines Jus-Studiums fand er keine Anstellung, weder in der Rechtspflege noch an der Universität noch bei einer Zeitung, da er einen „gewissen Ruf“ hatte: Er galt als Radikaler. Im Frühjahr 1952 etwa war er einer der Rädelsführer der studentischen Bewegung gegen die Unterzeichnung des US-Japanischen Sicherheitsvertrags (AMPO) gewesen. So landete er eher zufällig bei einer Aufnahmeprüfung für Regieassistenten – und hatte plötzlich einen Job in den Shōchiku-Ōfuna-Studios. Als sich die krisengeschüt­telte Shōchiku in den späten 50er Jahren nach dem Vorbild der anderen Studios zu erneuern suchte, fiel die Wahl auf Ōshima, der 1959 mit Ai to kibō no machi (Eine Stadt voller Liebe und Hoffnung) debütierte. Auch wenn der Film der Chefetage missfiel: Er hatte großen Erfolg bei der Kritik und ebnete den Weg für die Shōchiku-Nouvelle Vague. Im Jahr darauf feierten gleich fünf ehemalige Assistenten ihr Regiedebüt, von denen immerhin zwei, Shinoda Masahiro und Yoshida Yoshishige, ebenfalls große Bedeutung erlangen sollten, während ein dritter, Tamura Tsutomu, als Drehbuchautor zu einem der wichtigsten Mitarbeiter Ōshimas wurde.
 
Ōshima reagiert stets unleidlich, wenn man ihn als Gründer einer Bewegung darstellt. In Wahrheit war diese Neue Welle bei Shōchiku eine Bündelung verschiedener Innovationen innerhalb der japanischen Filmkultur. So ist etwa Ōshimas Trio von Meisterwerken im Jahr 1960 – Nackte Jugend, Das Grab der Sonne und Nacht und Nebel über Japan – mindestens so stark von den formalen Subversionen einiger Genre-Jungmeister bei Nikkatsu und Tōei geprägt wie von den radikalen Veränderungen im Dokumentarfilm. Darin liegt ein Hauptgrund für die Einzigartigkeit des japanischen Kinoaufbruchs Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre: In kaum einer anderen Filmkultur jener Zeit befruchteten sich die verschiedenen, traditionell getrennten Produktionssphären so sehr wie hier.
 
Diesen Umstand sollte man im Hinterkopf behalten, um Ōshimas Genie angemessen zu würdigen: Sein Kino lebt vor allem von der Energie, die freigesetzt wird, wenn scheinbar heterogene Elemente zu einer Reaktion gebracht werden. Jene Ōshima-Werke, die durch ihre formale Geschlossenheit und abgezirkelte Argumentation bestechen – z. B. Tod durch Erhängen (1968), Der Junge (1969) oder Die Zeremonie (1971) –, geben nur eine von vielen „Perspektiven“ in diesem prismatischen Œuvre wieder, ebenso wie seine ganz anders gearteten, dokumentarisch frei fließenden Essays – Tagebuch eines Diebes in Shinjuku (1968) oder Geheime Geschichten aus der Zeit nach dem Tōkyō-Krieg (1970). Denn im Kern ist Ōshimas Kunst eine permanente Destabilisierung: eine Kunst der Bewegung, nicht des Stillstands. Beständig ist hier allein die Suche, die Art, mit der sich Ōshima selbst in Frage stellt, neu erfindet, nur um zwei Filme später wieder ein Anderer zu sein.
 
Einen Zugang zu dieser Geschichte einer furiosen Selbst­verwandlung eröffnen gerade jene Ōshima-Filme, die bisher kaum rezipiert wurden – ihre Rauheit und ihre Lust am Plakativen, am Pop wie an der Tagesaktualität widersprachen offenbar dem ­abge­sicherten Kritikerblick auf Laufbilder: Werke wie Nihon shunka-kō (Über japanische Lieder der Unzucht), Muri shinjū: Nihon no natsu (Japanischer Sommer: Doppelselbst-mord unter Zwang), beide von 1967, Die Rückkehr der drei Trunkenbolde (1968) oder auch jene ­vollends „untypischen“ Filme wie die fröhlich kommerziell daher-kommende Satire Etsuraku (Die Freuden des Fleisches, 1965) und der Historien-Anime Ninja bugei-chō (1967). Man kann es auch trotzkistisch sagen: Ōshimas Kino ist die permanente Revolution.
 
Die erste Gesamtschau von Ōshimas Kinofilmen seit mehr als 20 Jahren wurde von James Quandt (Cinematheque Ontario) organisiert und in Europa vom Österreichischen Filmmuseum und BFI Southbank koordiniert. Weitere Stationen der Retrospektive sind ­Helsinki, Edinburgh, Turin und Zürich. Die Schau wird unterstützt von der Japan Foundation, dem Kawakita Memorial Film Institute und der Japanischen Botschaft in Wien.