Gone in 60 Seconds

Autokino
Road | Movie: 1940 bis 1976

27. August bis 6. Oktober 2010
 
Bei der Geburt und in seinen ersten Dekaden war der Film ursächlich mit dem „Eisenbahnblick“ verschwistert. Seit den 1980er Jahren lässt sich der bewegte Blick des Kinos immer stärker mit dem Fliegen, mit Flugsimulationen assoziieren. Dazwischen liegt die Epoche des modernen Films, dessen visuelle und erzählerische Strategien wesentlich von einer dritten Bewegungstechnologie geprägt sind – vom Automobil und seinen motorisierten Verwandten. Das Auto- und Straßenkino der 40er bis 70er Jahre bringt den enormen sozialen Wandel im Gefolge der Weltwirtschafts-krise und des Weltkriegs prononciert zum Ausdruck und mit ihm auch ein offeneres, „flüssigeres“ Verhältnis zu Raum, Zeit und Identität. On the road sein heißt immer auch: instabil sein, nicht zu Hause sein, bereit sein für andere, beliebige Leben. Leslie Dick: „On the road nobody knows you, you can be anybody, become anything.“

 
Die Schau des Filmmuseums widmet sich entlang von 50 Spiel- und Kurzfilmen diesem innigen Verhältnis von Kino und Automobilität. Sie ist aufgespannt zwischen der amerikanischen car culture und einem historisch erweiterten Blick auf jenes Gebilde, das man gemeinhin Road movies nennt. 2011 wird sie eine Fortsetzung erleben, die sich auf das reisende, „nomadisierende“ Kino Europas ab Mitte der 70er Jahre konzentriert. Autokino, der erste Teil des Projekts, hat sein Zentrum hingegen im US-Film, vor allem in jener kurzen Ära, die meist unter dem Titel „New Hollywood“ subsumiert wird.
 
Deren bestimmende Gangart ist das Fahren, Driften, Fliehen oder Rasen – von den Jugendkultur-Schlagern Bonnie and Clyde (1967) und Easy Rider (1969) über die existenziellen Tiefenbohrungen von Barbara Loden, Monte Hellman, Bob Rafelson, Daryl Duke und Sam Peckinpah bis zu den Tempo- und Materialschlachten in (Männer-)„Kultfilmen“ wie Vanishing Point, Gone in 60 Seconds oder Death Race 2000. Oft sind es gerade die frühen – oder einzigen – Werke in den damals anlaufenden Regiekarrieren, die ihr Glück on the road bzw. on the run versuchen: neben Loden, Rafelson und Dennis Hopper etwa jene von Terrence Malick, Francis Ford Coppola, James William Guercio, H.B. Halicki, Steven Spielberg oder George Lucas.
 
Der Veränderungsanspruch dieser postklassischen Filmemacher-Generation(en) bildet sich ab in der „Freiheitssuche“ ihrer Helden. Doch der Schauplatz der neuen Odysseen und Pikaresken ist altbekannt: Sie führen meist durch die Weiten des amerikanischen Kontinents. Die Road movies werden daher oft als eine Fortführung des Westerngenres verstanden; nicht nur die (versehrten) Landschaften erinnern daran, sondern auch der zivilisationskritische Impetus: „A man went looking for America and couldn’t find it any­where“ – so der Werbespruch für Easy Rider. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass der früheste Film dieser Schau von einem Westernregisseur stammt: John Fords The Grapes of Wrath (1940) ist – so wie Stagecoach im Jahr davor – ein Road movie durch und durch und registriert aufs Genaueste die gesellschaftlichen Verwerfungen, die mit der inneramerikanischen Migration und der neuen, „sozialpoliti­schen“ Kriminalität der Depressionsära einhergingen.
 
Das romantisch-existenzielle „Fahren, Fahren, Fahren“ – in die Weite und zugleich ins Innere des heimatlosen Subjekts – ist auch vorgeprägt in einigen Beispielen des Film noir (Detour, They Live by Night, Gun Crazy) und in der bekenntnishaften Literatur von Thomas Wolfe (You Can’t Go Home Again und A Western Journey, beide um 1940 erschienen) und Jack Kerouac (On the Road, 1947-57). „The hipster’s journey was the pleasure principle on wheels“, schreibt Manohla Dargis über Kerouacs Beat-Helden Dean. Gleichzeitig fiel ein anderer Dean, James mit Vornamen, seinem „death drive on wheels“ zum Opfer. Ihre moderne Form der Maskulinität beruhte auf Geschwindigkeit und auf jenen fragmentarischen, flüchtigen Bildwelten, wie sie der erweiterte Seh-maschinenkörper (Mann- Auto-Windschutzscheibe) produziert.
 
Noch bevor dieser Typus endgültig im Kino ankam, wurde er ins Fernsehen übersetzt, z.B. in die diskursprägende Serie Route 66 (1960-64). Die Autoindustrie fand also nicht nur ihre Verbündeten in der Verkehrspolitik (1956 brachte der US-Kongress etwa das Interstate Highway System auf den Weg), sondern auch kongeniale Medienpartner – für ein Produkt, das selbst wie ein Massenmedium funktionierte. Die popkulturell auf „Unabhängigkeit“ getrimmten Babyboomer legten dazu das ideale Konsumverhalten an den Tag – Chauvinismus inklusive: „Get in this large, sexy car; drive fast; seduce women; gain freedom; be a hero whatever the odds.“ (Mark Williams)
 
Die Retrospektive thematisiert diverse Aspekte der car culture – von den Hot-Rod-Afficionados (Ingenuity in Action) über Demolition Derbys und Stuntshows (Steel Arena) bis zum NASCAR-Zirkus (The Last American Hero). Diese Kultur ist ebenso vielfältig und „unrein“ wie die Road movies selbst, die weniger ein Genre repräsentieren als eine Art „Patchwork-Konzept“. Zu dessen Zweigen gehören etwa die Karambolage- und Bikerfilme, die Trucker- und Rennfilme (von Le Mans bis Cannonball!) und vor allem die „Fluchtfilme“, die zumeist ein couple on the run begleiten: Nicholas Rays They Live by Night (1948) bot die Urform, und Jean-Luc Godard ­lieferte mit Pierrot le fou (1965) die adäquate Hommage dazu.
 
Womit auch jene wesentliche Linie angesprochen wäre, die das amerikanische Road movie der 60er und 70er Jahre erst möglich macht: die europäische Kinomoderne mit ihrer neuartigen Auffassung von Zeit und Bewegung. Von Antonioni bis Bergman und Boorman, zwischen Rossellinis Viaggio in Italia (1954) und Matthias Weiss’ radikalem Blue Velvet (1970) eröffnet sich ein ganz anders geartetes „Autokino“, das die Weite notgedrungen weniger in der Landschaft als in der Filmerfahrung selbst sucht. Wie Dietrich Kuhlbrodt über Blue Velvet schrieb, ist das Drama hier ganz suspendiert: „Von Bedeutung ist allein der Zustand, der eine Bewegung ist: das Reisen. Der Film selbst ist unterwegs.“
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