Noi credevamo, 2010, Mario Martones

La Storia
Visionen der Geschichte Italiens

12. Mai bis 19. Juni 2011

 

Dank der patriotischen Vereinigung des Landes im Zuge des „Risorgimento“ stand 1861 zum ersten Mal seit den alten Römern wieder ein nationales Gebilde namens „Italia“ auf der Landkarte. Ein Ganzes wurde es aber erst 1870/71 mit der Einnahme und Hauptstadtwerdung Roms; und folgt man gewissen ­irredentistischen Bewegungen, dann wurde das Risorgimento – wenn überhaupt – erst mit dem Ende des „Großen Kriegs“ 1918 vollendet. Heute, im 150. Jahr nach der Staatsgründung, wirkt Italien immer noch ähnlich ­zerbrechlich wie in den Anfangstagen.
 
In der ersten Sitzung des gesamtitalienischen Parlaments soll der konservative Politiker und Schriftsteller Massimo d’Azeglio ­gesagt haben, dass es nun zwar einen italienischen Staat gebe, dessen Bewohner, die Italiener, allerdings erst geschaffen werden müssten. Dieser Aufgabe widmete sich auch das italienische Kino – als wirkmächtiger Schauplatz für die (heroische oder skeptische, affirmative oder revisionistische) Konstruktion von Geschichtsbildern und den von Widersprüchen gezeichneten Prozess der Selbstfindung. Die Retrospektive La Storia versucht, diese Vorgänge anhand von dreißig exemplarischen Filmen nachzuzeichnen.
 
Kanonisierte Meisterwerke wie Roberto Rossellinis Paisà, ­Vittorio Cottafavis Fiamma che non si spegne, Luchino Viscontis Il gattopardo oder Dino Risis Una vita difficile stehen dabei neben Entdeckungen wie Giacomo Gentilomos 'O sole mio! (1946), Gianfranco De Bosios Il terrorista (1963) oder Paolo Benvenutis Segreti di stato (2003); epische Entwürfe wie Bernardo Bertoluccis 1900 oder Mario Martones Noi credevamo neben Spekulationen über den Nationalcharakter wie Camillo Mastrocinques Totò-Meisterstück Siamo uomini o caporali? oder Elio Petris sinistrem Todo modo. Das zentrale Auswahlkriterium für die Filme war ihr Wille zur aktiven ­Geschichtsschreibung: Sie mussten zurückschauen, etwas Vergan­genes als historisch bedeutsam darstellen – dass sie dabei gleichzeitig Bilder ihrer eigenen Zeit schufen, versteht sich von selbst.
 
Eine Zuspitzung findet dies in Bertoluccis Strategia del ragno und Benvenutis Segreti di stato, die beide von Recherchen, Rekonstruktionsversuchen und deren Grenzen erzählen und so die Geschichtsschreibung selbst thematisieren. Aber keine Regel ohne Ausnahme – z. B. bei den Filmen rund um die „bleierne Zeit“: Todo modo (1976) ist eine Zukunftsvision, zornerfüllt vom Wissen um eine korrupte Gegenwart und Geschichte; und Marco Bellocchios Buongiorno, notte (2003) sollte man tunlichst nicht als realistische Darstellung der Aldo-Moro-Entführung verstehen ... Die Zeit, auf die die ausgewählten Filme blicken, muss nicht fern sein: Paisà (1946) etwa dramatisiert Ereignisse der unmittelbar vorangegangenen Jahre, Una vita difficile (1961) endet gar in den Tagen ­seiner Entstehung – wobei Rossellini und Risi ihre Geschichten so ­er­zählen, dass kommende Generationen sie wie Chroniken studieren können.
 
Einige historische Prozesse und Markierungen, manchmal nur Augenblicke, erwiesen sich als besonders geschichtsmächtig: Auf sie schaute das Kino immer wieder, während andere fast wie Leerstellen wirken. La Storia versucht deshalb nicht, die italienische Geschichte vom Risorgimento bis heute lückenlos nachzuzeichnen, sondern konzentriert sich auf einige Schlüsselmomente, die dafür stets aus mehreren Perspektiven betrachtet werden.
 
Ein Beispiel: das Risorgimento. Alessandro Blasetti erzählt in 1860 (1934) die Geschichte von Garibaldis Feldzug als faschistischen Ursprungsmythos – Mussolini wird hier zum Vollender eines alten Auftrags. Beunruhigend wie signifikant ist, dass es 1951 nur einer Kürzung am Ende bedurfte, um den Film für das Nachkriegsitalien der Democrazia Cristiana wieder verwendbar zu machen. Rossellinis Viva l’Italia (1961), entstanden im Staatsauftrag zu den 100-Jahr-Feiern der Republik, betonte hingegen das Unvollendete der Mission Garibaldis – passend zu einem Augenblick der politischen Neuorientierung. Noi credevamo (2010) schließlich zeigt das Risorgimento als eine so grandiose wie unvermeidbare Fehlgeburt: Martone dramatisiert ständig den Antagonismus zwischen den kaum überschaubaren Fraktionen und zeigt, wie noble Ideen an Partikularinteressen scheitern – ein Film auch über die Ära Berlusconi und gegen deren Geschichtsbilder, als Brandbrief an eine gespaltene Linke.
 
Weitere Beispiele für dieses Prinzip sind z. B. die „Doubles“ zum Neapolitanischen Volksaufstand (27. bis 30.9.1943) mit 'O sole mio! und Nanni Loys Le quattro giornate di Napoli (1962) oder zu den Umständen des Todes von Salvatore Giuliano mit Segreti di stato und Francesco Rosis Salvatore Giuliano (1962), aber auch die Reihe mit Filmen über den „Großen Krieg“. Sie alle sind Splitter in einem offenen Gebilde, das keinen Anspruch darauf erhebt, Allgemeingültiges über die italienische Geschichte zu sagen. La Storia ist eine Art Mosaik, dessen Reichtum an Motiven und Bezügen sich Film um Film erst erschließt; kein Werk kann hier behaupten, das Programm auch nur im weitesten Sinne als Ganzes zu repräsentieren. So ähnelt die Schau dann doch ein wenig Italien selbst – oder dem Nationalstaat an sich. Wie La Storia über Italien nachdenkt, könnte man sich auch anderen Ländern und ihren (Selbst-)Bildnissen nähern.
 
Die Schau wurde von Olaf Möller kuratiert und findet mit Unterstützung des Italienischen Kulturinstituts Wien sowie in Kooperation mit der Cineteca Nazionale (Rom) statt.