Accattone, 1961, Pier Paolo Pasolini

Rom
Eine Stadt im Film, 1945-1980

8. Jänner bis 11. Februar 2016
 
Eine der großen Metropolen des alten Europa ist Schauplatz der ersten Filmmuseum-Retrospektive im neuen Jahr: Rom, die sprichwörtlich „ewige“, in antike wie neuzeitliche Mythen eingesponnene Stadt. Im Licht dieser Filmschau wird Rom ­jedoch ganz gegenwärtig und konkret, als Lebensraum und als gesellschaftlicher Brennpunkt in der Nachkriegsentwicklung Italiens. Die Ära von 1945 bis 1980 repräsentiert zugleich das Goldene Zeitalter des italienischen Kinos – und Rom war nicht nur dessen Produktionszentrum, sondern auch ein bevorzugter Austragungsort jener ­Erzählungen, die das Massenpublikum gierig aufsog: Die soziale ­Realität und die Öffentlichkeit des Mainstreamkinos waren damals, vor dem Siegeszug des Privatfernsehens, noch innig aufeinander bezogen.
 
Die Stadt und ihre zeitgenössischen Wandlungen wurden von den großen „Künstler-Regisseuren“ wie Fellini, Antonioni und Pasolini ebenso in Bilder gefasst wie von den Genies der Komödien-Industrie (Mario Monicelli, Dino Risi oder Ettore Scola), aber auch von Filmautoren wie Luciano Emmer, Mauro Bolognini oder Pietro ­Germi, deren Werk größtenteils noch zur Wiederentdeckung ansteht. Ihre Rom-Projektionen sind bevölkert von einer reichen ­Galerie charakteristischer Menschentypen – und von Ausnahme­darstellern wie Marcello Mastroianni und Anna Magnani, Vittorio Gassman und Monica Vitti, dem Komiker-König Totò sowie Alberto Sordi, schauspielerischer Inbegriff des uomo italiano der Nachkriegsdekaden.
 
Sordi ist es auch, der die Schau vom Neorealismus der Nachkriegsjahre (Sotto il sole di Roma) über die Blütezeit der Commedia all’italiana (mit ihren satirischen und zornig-melancholischen Blicken auf Wirtschaftswunder, urbanes Wachstum, eskalierendes Konsumdenken und damit einhergehende Entfremdung) bis hin zu Visionen des völligen Versagens führt. Luigi Comencinis L’ingorgo (1979) mit seinem rasenden Stillstand im Stau bildet den Schlusspunkt der Retrospektive: Ein All-Star-Cast findet sich gefangen auf der (als ­eigentliche Stadtgrenze geltenden) Ringautobahn GRA um Rom – die „geschlossene“ Stadt als allegorischer Kontrapunkt zum historischen Einstieg, Roberto Rossellinis Klassiker Rom, offene Stadt (1945).
 
Rossellinis ungeschminktes Porträt von Zertrümmerung und menschlicher Not war mitbestimmend für den Welterfolg des neoverismo. Die romanità fascista blieb indes prägend für die Stadt: Das Mussolini-Regime hatte Rom zum repräsentativen Schaufens­ter gemacht, das Zentrum durch Kahlschlag auf solitäre ­Monu­mente der Antike zugespitzt und die unerwünschten Armen an die Peripherie zahlreicher Schlichtbau-Borgate („Vorstadt-Dörfer“) umgesiedelt. Als Millionen aus dem armen Süden nach dem Krieg nordwärts strömten, setzte sich der Trend fort: Wohnungsnot und illegale Spekulation sind der historische Hintergrund für Dramen (Roma ore 11) wie für Komödien (etwa Totò cerca casa, wo Totò ­unter anderem im Kolosseum einzuziehen versucht). Indessen ­liefert Luciano Emmers Domenica d’agosto mit seinen Sonntagsausflüglern am Strand von Ostia einen Querschnitt der römischen Volkskultur, während Fellinis Fake-Fotoromanzi in Lo sceicco ­bianco oder Antonionis Fallstudie über ein Filmsternchen, La signora ­senza camelie, solch realen Rom-Bildern schon in den frühen 50er Jahren die falschen Versprechen neu geschürter Eskapismus-Fantasien entgegenhalten.
 
Die 1937 von Mussolini eröffnete Filmstadt Cinecittà und ihr imaginäres Studio-Rom spielen in der Schau tatsächlich nur die Rolle des Fluchtpunkts: In Viscontis Bellissima opfert Anna Magnani ­alles für die Traumkinokarriere der talentlosen Tochter; ähnliche Hoffnungen (und stärkere Ernüchterungen) ziehen sich später auch durch Antonio Pietrangelis traurig-schöne Ballade der Boom-Ära, Io la conoscevo bene. Der Glamour der Kinometropole erstrahlt da längst im Zwielicht, umgeistert von Paparazzi und Ennui wie in Fellinis La dolce vita (1960), der wohl die größte Zahl moderner Rom-Ikonen in sich versammelt. Zur berühmten Anita-Ekberg-­Szene am Trevi-Brunnen gesellt sich noch im selben Jahr ein anderer Blick auf diesen Ort, in Monicellis Risate di gioia mit Magnani und Totò – eines von vielen Beispielen für das prismatische Bild römischer Orte, das die Filme dieser Schau zusammen ergeben.
 
Zwischen Börsentrubel und den „apokalyptischen“ Schluss­bildern einer leeren Stadt untersucht Michelangelo Antonionis L’eclisse die wachsende urbane Entfremdung der Oberschicht. Die Passionen Pier Paolo Pasolinis oder die Prostituierten-Porträts von Raffaele Andreassi (L’amore povero) beschreiben das Phänomen in der Unterschicht – und ganz andere, garantiert glamourfreie Rom-Lebenswelten. Fellini war für Le notti di Cabiria in die borgate gegangen, aber aus Pasolinis Sicht nicht weit genug: Dessen eigene Protagonisten, in Accattone und Mamma Roma, leben am äußers­ten Stadtrand in subproletarischer Seelenpein.
 
Die Korruption durch Konsumismus und Konformismus ist die Kehrseite des boom. In den 1960ern wird der Gleichmacher-Effekt des Fernsehens erstmals spürbar, und die Massenmotorisierung vernichtet die Kultur der Straße: Die neuen „Transportbänder für ­Arbeitskräfte“ verdrängen öffentliche Treffpunkte, Boccia-Clubs und Tanzdielen weichen Einkaufszentren. In Domenica d’agosto waren Autos noch die Ausnahme, in L’ingorgo sind sie zum Symbol der unaufhaltsamen Misere geworden – in konsequenter Zuspitzung des Ringautobahn-Staus, der selbst in Fellinis spektakulärer Hauptstadt-Huldigung Roma nicht mehr fehlen darf.
 
Als Fortschreibung des Sordi-Zentralwerks Una vita difficile (1961) blickt Ettore Scola in C’eravamo tanti amati (1974) noch einmal melancholisch über die Dekaden auf verlorene Ideale zurück, dann kommt der Kollaps: in Scolas Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen und für Sordi als Ein wirklich kleiner Kleinbürger. Die Menschen, ihre sozialen Optionen sind geschrumpft, aber Rom bleibt unendlich groß. „Wer das Phänomen dieser Stadt beobachtet, die von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, von Tag zu Tag wächst“, schrieb Pasolini, „merkt irgendwann, dass es kein anderes Mittel der Erkenntnis zu geben scheint als das Auge.“ Fünf Wochen lang kann das Auge nun erkenntnisreich schweifen: über Rom, und über Rom hinaus.
 
Die Retrospektive findet in enger Zusammenarbeit mit der Cineteca Nazionale und dem ­Istituto Luce – Cinecittà sowie mit Unterstützung des Italienisches Kulturinstituts in Wien statt.