Farbtest Rote Fahne, 1968, Gerd Conradt

Unversöhnt

22. April bis 4. Mai 2016
 
Filme mit, über, von Holger Meins – sowie von Roberto Rossellini, Peter Lorre, Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, Walter Krüttner, Harun Farocki, Johannes Beringer, Helke Sander, Gerd Conradt, Thomas Giefer, Günter Peter Straschek, Renate Sami, Gerhard Friedl, Jean-Gabriel Périot

 
Die gezeigten Werke ergeben eine Konstellation, ein Sternbild. Der Satz von Holger Meins (1941–1974), der auch Renate Samis Film über ihn als Titel dient, wäre eine andere mögliche Überschrift für das Programm: „Es stirbt allerdings ein jeder, fragt sich nur wie, und wie du gelebt hast.“
 
Meins, der als junger Filmemacher in den Untergrund ging und sich der RAF anschloss, wurde vor 75 Jahren geboren. Vor 50 Jahren, im September 1966, eröffnete der Berliner Bürgermeister Willy Brandt die Deutsche Film- und Fernsehakademie (dffb), deren erstem Jahrgang Meins angehörte, neben Harun Farocki, Hartmut Bitomsky, Helke Sander, Johannes Beringer, Gerd Conradt und anderen. „Von Beginn an war die Atmosphäre an der Schule politisch hoch aufgeladen. Nach dem 2. Juni 1967, als Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen wurde, radikalisierte sich die Haltung vieler Studierender. 1968 wurden einige von ihnen nach der Besetzung des Rektoren-Büros und der symbolischen Umbenennung in 'Dziga-Wertow-Akademie' zeitweilig relegiert. Mehrere Filme jener Zeit verstanden sich als direkte Gebrauchsanweisungen für den 'revolutionären Kampf' oder stellten die Frage nach der Notwendigkeit von gewaltsamem Widerstand.“ (Claudia Lenssen)
 
Der Grazer Günter Peter Straschek (1942–2009) war ebenfalls Teil des ersten dffb-Jahrgangs. Nach Versuchen, mittels sozialistischer Filmarbeit in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft tätig zu werden (also über die Bohème hinaus), publizierte er 1975 das Handbuch wider das Kino und begann seine jahrzehntelangen Forschungen zum deutschsprachigen Filmexil. „Wenn man erfahren will, was GPS umtrieb, höre man sich an, wie er in Huillet & Straubs Film Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene die Briefe bzw. Briefstellen von Arnold Schönberg an Wassily Kandinsky liest: etwas von dieser Abgrenzung und Schärfe war auch in seinem eigenen Wesen.“ (Johannes Beringer)
 
Zur Frage, wie die deutsche Gesellschaft nach 1945 ihre Geschichte vor 1945 bearbeitet, verdrängt, inszeniert oder in Begleitmusik umgeschrieben hat, liegen ganze Bibliotheken vor. Einige Regale darin widmen sich dem um 20 Jahre verzögerten Bruch, auf den die Studentenbewegung und die militanten Gruppen abzielten: eine Bewusstmachung und Unterbrechung bestimmter Kontinuitäten zwischen dem NS-Staat und der BRD. Ein frühes, rares und für die Generation von Straschek, Bitomsky, Farocki prägendes Beispiel des Bruchs im deutschen Kino war das Schaffen von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, beginnend mit Machorka-Muff (1962) und Nicht versöhnt (1964/65). Ihren späteren Film Moses und Aron (1974) widmeten sie dem im Hungerstreik verstorbenen Staatsfeind Holger Meins.
 
Die deutschen Filme des Italieners Roberto Rossellini (1948) und des Remigranten Peter Lorre (1951) sind ebenso rare Bruchstellen. Im Zentrum steht der Umgang mit einer Schuld, die 1945 nicht einfach verschwunden ist, sich vielfach auch fortsetzte oder auf neue Weise auftürmte. Die Schuld erkennen und (noch bei geschlossenen Augen) sehen zu können, bringt freilich keine Versöhnung. Die Filme enden tragisch. Ihr kathartisches Potential wiederum traf auf tote Augen: Kaum jemand in Deutschland oder Österreich wollte sie wahrhaben oder auch nur zeigen.
 
Christian Petzold, dffb-Absolvent späterer Jahre (mit Lehrern wie Bitomsky und Farocki, der dann auch zu seinem Co-Autor wurde), schaut in seinem Film Phoenix (2014) auf ebendiese Nachkriegsblindheit zurück. Auch die Filme von Gerhard Friedl (*1967, Bad Aussee, † 2009, Berlin) und Jean-Gabriel Périot (*1974, Bellac) spinnen die Fäden aus Sicht der Nachgeborenen fort – auf völlig konträre Art. Ausschließlich aus Archivmaterial rekonstruiert Périot „eine deutsche Jugend“ (jene der 60er und 70er Jahre; im engeren Sinne: jene der dffb 1966–68). Friedl denkt neu über Kontinuitäten nach, am Beispiel der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu die Landschaften des Kapitalismus: heute.
 
„Die Dinge, die hier zwischen uns zur Sprache kommen könnten, die sind weder Ihnen noch mir sonderlich angenehm.“ (Peter Lorre, Der Verlorene)
 
Im April 2016 erscheint auch der dem Œuvre von Straub-Huillet gewidmete neue Band der FilmmuseumSynemaPublikationen – anlässlich der am MoMA New York startenden Retrospektive und Nordamerika-Tour sämtlicher Filme des Künstlerpaars.

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