Le Samouraï

Jean-Pierre Melville

11. März bis 7. April 2011

 

Jean-Pierre Melville, 1917 in Paris geboren, 1973 ebendort verstorben, war eine singuläre Figur des Weltkinos. Sein Name verbindet sich mit einer völlig eigenständigen Filmsprache, deren traumgleiche Kraft und asketische Klarheit er unter anderem in einer ­Serie berühmter Gangsterfilme vervollkommnete. Le Samouraï mit Alain Delon als „eiskaltem Engel“, Le Deuxième souffle mit Lino Ventura oder Le Doulos mit Jean-Paul Belmondo sind Musterbeispiele der für Melville typischen Entschlackung, rigorosen Stilisierung und perfekten Detailkalibrierung: kühle, konzentrierte Genrestücke von einzigartiger Reinheit, Artikulationen einer spezifischen Weltsicht und, ganz neben­bei, Starvehikel für einige der berühmtesten Darsteller des französischen Kinos.
 
Delons, Belmondos und Venturas Interpretationen des „homme melvillien“ besaßen jene ikonische Qualität, die auch dem Schaffen ihres Regisseurs eignet. Melville erzählte illusionslose, mit ritueller Unausweichlichkeit ablaufende Geschichten von Einzelgängern, die nach einem unumstößlichen Ehrenkodex agieren. Sie geraten in Konflikt mit einer bürgerlichen Welt, die nach anderen Maßstäben funktioniert – Kapital, Macht, Opportunismus. Der Preis, die zwangs­läufige Konsequenz ihrer stolzen, unbedingten Integrität ist der Tod, der paradoxerweise auch unwiderruflicher und absurder Ausdruck ihrer Freiheit ist.
 
Zwei Erfahrungen haben Melville und sein Filmemachen geprägt. Sein chef d’œuvre, das monumentale, seinen Gangsterfilmen verwandte Résistance-Epos L’Armée des ombres, führt sie zusammen. Zum einen die Jahre als Widerstandskämpfer während der deutschen Okkupation Frankreichs; damals wählt Jean-Pierre Grumbach, Sohn elsässischer Juden, den bis ans Lebensende beibehaltenen Namen seines Lieblingsschriftstellers Herman Melville: „Alles, was ich geworden bin, jeder Freund, den ich gewonnen habe, jeder Wert, den ich kennengelernt habe, stammt aus dieser Zeit.“ Zum anderen das Faible für amerikanisches Kino, besonders jenes der 30er Jahre. Melvilles 1961 publizierte Liste der für die Entwicklung des Erzählkinos ausschlaggebenden 63 US-Regisseure (von Bacon, Lloyd bis Wyler, William) ist wie ein Wegweiser durch sein eigenes Werk. Mit durchschlagendem Erfolg nimmt er sich der Verdichtung und Vervollkommnung des amerikanischen Erbes an. Manchmal rekonstruiert er sogar Schauplätze, Momente und Einstellungen aus bewunderten Filmen als Teil seiner eigenen ­Kino­träume.
 
Ebenso rekonstruiert er seine Erinnerungen – an die Résistance-Zeit in L’Armée des ombres oder an das Vorkriegs-Unterweltmilieu in Bob le flambeur – und betont gleichzeitig deren bloße Subjektivität: Seine Filme hätten nichts mit ihm als Privatperson zu tun, aber alles mit seinen Träumen. „Alle meine Filme drehen sich um das Phantastische“, sagt er und stellt ein fiktives Zitat aus dem Bushido, dem Buch der Samurai, jenem Werk voran, dessen Titel exemplarisch das Naheverhältnis zwischen Melvilles Kunst der Aussparung und asiatischen Traditionen auf den Punkt bringt: Le Samouraï, Bild-Ton-Gedicht über die Würde eines Killers als Nō-Spiel. Melville: „Meine Personen leben auf der Leinwand die Abenteuer und ­Situationen, die ich vorher geträumt habe.“
 
„Unsterblich werden ... dann sterben“, antwortet der von ­Melville gespielte Schriftsteller in Jean-Luc Godards À bout de souffle auf die Frage nach seiner größten Ambition: ein Satz wie ein Motto für die tragischen Melville-Helden und beispielhaft für das Gesamtkunstwerk Melville, das (neben Robert Bresson oder Jean Rouch) zu den wenigen französischen Idolen der nachfolgenden Nouvelle-Vague-Generation gehörte. Bis auf zwei Filme – die kurze „Jugendsünde“ 24 heures de la vie d’un clown und die schöne ­Auftragsarbeit Quand tu liras cette lettre, die zur Finanzierung des eigenen Studios und damit der Unabhängigkeit diente – ist der Werkkörper Melvilles von geradezu monolithischer Geschlossenheit. Es ist das Œuvre eines totalen Filmemachers, der neben Regie, Buch und Produktion oft auch für Kamera, Schnitt oder Bauten ­verantwortlich zeichnete. Selbst als Hauptdarsteller trat er auf, z. B. in seinem nachtschwarzen Krimi Deux hommes dans Manhattan, der – so wie sein Belmondo-Road-movie L’Aîné des Ferchaux – tief in die amerikanische Realität eintaucht.
 
Für sein Langfilmdebüt Le Silence de la mer adaptiert Melville im Alleingang Vercors’ Untergrundroman, die „Bibel der Résistance“, als radikal eigenständigen Entwurf: eine erste Evokation der geheimnisvollen Leere, die im Innersten der Melville-Filme lauert, unsagbar, unzeigbar, aber unheimlich erahnbar. In zwei weiteren Hauptwerken, Léon Morin, prêtre und L’Armée des ombres, kehrt er zum Résistance-Thema zurück, ansonsten widmet er sich ab 1954 in seinem Studio der minutiösen Ausgestaltung eines existen­zialistischen Genrekinos: Gangsterfilme als verwandelte Widerstandsfilme; urbane, nachtblaue Entwürfe des 20. Jahrhunderts im Spiegel seiner verbrecherischen Schattenseite. In den letzten Werken Le Cercle rouge und Un flic wird die Radikalität dieser Vision noch einmal summiert. Am Ende lässt Melville seinen Samouraï-Darsteller Alain Delon auf die Seite des Gesetzes wechseln, um den flic als gewissenloses Double des Gangsters zu entlarven.
 
Die Retrospektive sämtlicher Filme von Jean-Pierre Melville wird ergänzt durch ein filmisches Porträt des Regisseurs und durch Jean-Luc Godards À bout de souffle, in dem er als Darsteller zu sehen ist. Die Schau findet in Kooperation mit Culturesfrance und dem ­Filmmuseum München statt.