Negresco**** – Eine tödliche Affäre, 1968, Klaus Lemke

Kino-Atlas 4: München-Schwabing

22. bis 26. September 2016

"Die Auswahlkommission hat in diesem Jahr westdeutsche Filme abgelehnt, deren Autoren es gewagt hatten, auf Realität Rücksicht zu nehmen", hieß es auf einem Flugblatt, das 1965, drei Jahre nach dem berühmten Manifest, auf den Kurzfilmtagen Oberhausen verteilt werden sollte. Zu den Unterzeichnern zählten drei junge Filmemacher, die in den Folgejahren den Kern der Münchner Gruppe bildeten und die zuerst mit Kurz-, bald auch mit Langfilmen einen neuen, ungezwungenen Tonfall ins deutsche Kino einbrachten: Rudolf Thome, Klaus Lemke und Max Zihlmann. Daneben finden sich aber auch die Namen zweier Regisseure, die man heute mit ganz anderen Spielarten des Kinos verbindet: Jean-Marie Straub und Peter Nestler.
 
In den 1960er Jahren geriet das Kino weltweit in Bewegung, so auch in Deutschland. Ästhetische wie politische Grenzen verschoben sich andauernd, Bündnisse wurden ebenso schnell geschlossen wie gebrochen. In dieser Phase des Umbruchs entstand in München eine Art deutsche Nouvelle Vague im Verborgenen. In Abgrenzung vom Professionalisierungsdruck der von ihnen als potenzielle Filmbeamte betrachteten Oberhausener schuf die sehr heterogene Gruppe junger Münchner Cinephiler eine eigene Form der Filmpraxis, der es vor allem um die Kontinuität des Kinos zur eigenen Lebenswirklichkeit ging. Und die deshalb Straub/Huillets wütende Abrechnung mit der BRD-Nachkriegsgesellschaft (Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter) genauso gelten ließ wie Thomes lässige Genre-Reflexion Jane erschießt John, weil er sie mit Ann betrügt.
 
Dem losen Verbund schlossen sich bald weitere Filmemacher und Filmemacherinnen an. Etwa der Bulgare Marran Gosov, der vor allem im Kurzfilm eine eigene, originelle Filmpoesie entwickelte; oder der spätere Peckinpah-Darsteller Roger Fritz, der mit seinen wenigen Spielfilmen von der Kritik kaum beachtet wurde, heute aber als einer der modernsten deutschen Filmemacher seiner Zeit wiederzuentdecken ist. Oder die Regisseurin May Spils und ihr Hauptdarsteller Werner Enke: Zur Sache, Schätzchen, der erste Langfilm des Teams, wurde zum ersten und einzigen Blockbuster des Münchner Slacker-Kinos.
 
Nachträgliche filmische Auseinandersetzungen mit "den 68ern" stellen zumeist deren politisch militante Ausläufer in den Mittelpunkt. Die breiteren sozialen Veränderungen, die die 1960er Jahre mit sich gebracht oder vorbereitet haben – unter anderem: die Zweite Frauenbewegung und die sexuelle Revolution, neuartige Populär- und Jugendkulturen, die gesellschaftliche Duldung alternativer Lebensentwürfe –, haben sich als schwerer fassbar erwiesen. In den Filmen der Münchner Gruppe ist der Geist von ’68 jedoch unmittelbar spürbar – und er offenbart sich weniger in expliziten politischen Diskursen als in den neuen Formen des Sprechens, Lebens, Liebens, auch der Mode und der Popmusik, die die Filme fast dokumentarisch festhalten.
 
Das Manifest von Thome, Lemke, Zihlmann, Straub, Nestler wurde übrigens nie verteilt. Zum Filmpolitiker taugte, das unterschied die Münchner von den Oberhausenern, niemand aus der Gruppe. Umso besser sind ihre Filme gealtert.
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