D'Est, 1993, Chantal Akerman

Europa erzählen

11. Mai bis 25. Juni 2017

"Das Problem mit Europa? Es lässt sich nicht erzählen." Was ein befreundeter Filmemacher vor einigen Jahren ausgesprochen hat, hallt seitdem immer häufiger wider. Der von manchen so innig ersehnten und in der Realität so fern gerückten "Union" fehlt offenbar das einende Narrativ – gerade im Vergleich mit dem transatlantischen Gegenüber. Dort genügt schon ein Wort und sein Klang: Amerika – und die ganze Erzählung ist anwesend.

Mit Europa ist es komplizierter. Der Bezug auf den Holocaust als Zivilisationszäsur und auf die Ära der totalitären Regime insgesamt fungierte längere Zeit ex negativo als Grundlage für eine Friedens- und Wohlstandserzählung, geriet aber zunehmend abstrakter. Der noch viel weiter zurück reichende Verweis auf die Antike bzw. aufs "jüdisch-christliche Weltbild" wird mehr und mehr als akademische Spezialfrage für Kulturhistoriker empfunden. Und die Einsicht in Europas Kolonialgeschichte hat nur so weit einigende Kraft, als sich darauf erst recht die irrationale Furcht vor "Gegenschlägen" wie Masseneinwanderung und Terror auftürmen lässt.

Die Retrospektive, die das Österreichische Filmmuseum im Rahmen der Wiener Festwochen 2017 präsentiert, geht davon aus, dass es die eine "Erzählung Europa" nicht geben kann; dass die Chance auf ein aufgeklärtes Verständnis Europas gerade im Anerkennen seiner schöpferischen Splitterhaftigkeit liegt. Europa ist das Werk widerstreitender, unfügsamer historischer Kräfte, die weder von den Phantasmen des Neo-Nationalismus noch von der bürokratisch-ökonomistischen Rahmung namens "Brüssel" einfach stillgestellt werden können (auch wenn deren legitime Kernelemente, das Bedürfnis nach "Heimat" und jenes nach Rechtsstaatlichkeit und Fairness, eine Rolle für jedes wünschenswerte Europa spielen werden).

Wie die Literatur hat auch das Kino Europas zahlreiche vitale, schmerzvolle, leichtfüßige Angebote zu solch einem aufgeklärten Verständnis gemacht. In seinen Erzählungen (nicht immer den berühmtesten bzw. gewinnträchtigsten) hat es die Fragen und Splitter aufgeworfen, mit denen sich Europa vielleicht repräsentieren lässt, anders als im Mythos, anders als in den Nationaldiskursen und anders, als es die EU-Filmförderung gern sähe. Denn dieses Kino ist selber ein unfügsames, unfertiges, schöpferisch splitterhaftes Gebilde – und lässt sich daher am besten vermitteln, wenn man anstelle "sauberer" filmhistorischer Einteilungen und Kausalitäten einige Schlangenlinien auf dem Terrain einzeichnet: Sie entspringen einem eher essayistischen Vorgehen und folgen starken Erinnerungsspuren.

Dazu gehört dann der außereuropäische Blick (von Regisseuren wie Joseph Losey, Raúl Ruiz, Ousmane Sembène und Orson Welles) ebenso wie die Erfahrung von Filmemacher/inne/n, die jenseits ihrer Landesgrenzen und -sprachen tätig werden (von Luis Buñuel und Max Ophüls bis Chantal Akerman und Claire Denis). Dazu gehört die Entscheidung, an jedem Spieltag zwei der ausgewählten Filme nach jeweils unterschiedlichen Echos und Kontrasten miteinander in Beziehung zu setzen. Und dazu gehören drei grobe Leitbegriffe, die den Schlangenlinien eine gewisse Richtung geben: das Geld (und sein Fließen), das Gehen (und Fahren und Fliehen), die Geschichte (und das, was in ihr wiederkehrt, als Fakt und als Farce). Anders gesagt: etwa hundert Jahre europäischer Geschichte und europäischer Erzählungen, in denen sich "Freiheit" nicht nur auf Kapitalfluss und Warenverkehr bezieht, sondern auch auf den freien Gang der Menschen.

"Wir sehen unser Europa in einem eigentümlichen Licht – und erkennen es trotzdem." Das hat Eric Rohmer vor sechzig Jahren über Orson Welles' geheimnisvollen europäischen "Ruinenfilm" Confidential Report (1955) geschrieben. Und eben dies, das Trotzdem-Erkennen oder gar Besser-Sehen unter eigentümlichem Licht, ist auch das Ziel dieser Filmschau.

Sie erzählt davon, wie die Körper und die ökonomischen Bedingungen, das Begehren und die Gefängnisse aufeinander krachen, in Europa '51 (Rossellini) und In einem Jahr mit 13 Monden (Fassbinder). Wie es sich anfühlt, Europa und seine Schnittmuster zu durchkreuzen, als Passagierin nach dem Konzentrationslager (Andrzej Munk) oder als Reisender Krieger in der Gangart eines modernen Odysseus (Christian Schocher). Und wie man da leben kann, als Bewohner einer spektakulären Playtime (Jacques Tati) oder als eine Vogelfreie, Sans toit ni loi (Agnès Varda). Was ein Versprechen (La Promesse, Luc und Jean-Pierre Dardenne) und eine Hoffnung (L'Espoir, André Malraux) hier wert sind. Wie das koloniale Denken erinnert wird oder weiterlebt, als Chocolat (Claire Denis) oder Tabu (Miguel Gomes); wie Fliehende dieses Terrain erfahren, als Letzte Chance (Leopold Lindtberg) oder als Landschaft im Nebel (Theo Angelopoulos); und wie man fragen sollte, einfach nur fragen, vom großen Ganzen bis zum konkreten Fall: La Question humaine (Nicolas Klotz) – Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? (Gerhard Friedl). Ist Europa heute wie Der Mann, der sein Gedächtnis verlor (Fridrich Ėrmler) oder wie Das Testament des Dr. Mabuse (Fritz Lang)? Dies alles auf der Grundlage von Geschichtsunterricht (Huillet/Straub) oder des Matthäus-Evangeliums (Pasolini).

Filme aus den Jahren 1929 bis 2012: fünfzig Erzählungen von Europa, fünfzig Beispiele für die kommende Aufklärung.

Die Retrospektive findet im Rahmen der Wiener Festwochen statt. Auf Einladung des Filmmuseums werden ein Kurator und drei Künstler der Festwochen jeweils einen Film aus der Schau präsentieren und kommentieren: Bonaventure Ndikung (Berlin), Tianzhuo Chen (Beijing), Derrick Ryan Claude Mitchell (Seattle) und Daniel Lie (São Paulo).
Zusätzliche Materialien