Dominik Graf
Werkschau und Carte blanche

21. März bis 4. April 2013
In einem frühen Traktat unterschied der britische Kinodenker Raymond Durgnat zwischen zwei Filmemachertypen: den Aristotelikern
und den Platonikern. Erstere versuchen, ein immer neues Gleichgewicht zwischen ihren Widersprüchen zu finden; letztere wollen
durch das Ausmerzen aller Ambivalenzen ein Absolutes kreieren. Dominik Graf kann viel mit dieser Zuspitzung anfangen und
widerspricht nicht, wenn man ihn ein Prachtexemplar unter den Aristotelikern nennt. Nicht „Schundfilm“ oder Ozu ist seine Devise, sondern beides. Aber nie zugleich – nur so nah beieinander, dass grelle Funken sprühen. Kino, das ist
für Graf ein Erfahren der Welt von Augenblick zu Augenblick, also das Anstreben eines Ozu-haften mono no aware mit der Leck-mich-am-Arsch-Haltung eines alten Industrieroutiniers.
Graf sieht sich als Profi – in bewusster Absetzung vom Typus des Post-Oberhausener Autorenfilmers, der das westdeutsche Kino
der 70er prägte. Was ihm als Ideal vorschwebte, war der Regiehandwerker, der in einem industriellen Zusammenhang arbeitet.
Diese Möglichkeiten eines klassischen Studiosystems glaubte er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und an der starken Brust
der Bavaria neu (er-)finden zu können. In diesem anonymen Kontext wollte er Genre-, Konfektionsware schneidern, die Muster
jedoch mit Verve und ungewöhnlichen Maßnahmen konterkarieren, unterminieren – und dabei unsichtbar bleiben wie ein Schmuggler
in der Nacht. Ein cinephiler Traum, was sonst. Denn wer wirklich was kann, wird bemerkt, u. a. wegen all dem, was ihn vom
Rest unterscheidet.
Kein anderer im deutschen Kino und TV der letzten drei Jahrzehnte erzählt derartig dynamisch, packend, verwegen wie Graf –
oft sprunghaft und ganz aus den Charakteren heraus, ihren Sehnsüchten und Ängsten, ihrem Begehren, ihren Abgründen. Wie Karoline
Eichhorn in Der Felsen (2002) trunken durch eine korsische Nacht in die Arme zweier Fremdenlegionäre stolpert oder Mišel Matičević in Komm mir nicht nach (2011) versonnen von den Pornoheft-Protagonistinnen seiner Jugend schwärmt, die er manchmal im Internet wiederfindet, älter
nun und anders schön: das sind Augenblicke, in denen kurz und prägnant alles über die Liebe gesagt wird, und über das, was
sie mit uns macht.
Graf, Jahrgang 1952, schloss die HFF München 1979 ab, danach „schaffte er“ in der Produktion, wie man am Bau sagen würde:
Er drehte Serienepisoden, revolutionierte ab 1983 mit Der Fahnder das Vorabend-Fernsehen und schuf mit Schwarzes Wochenende (1984/ 86) und Frau Bu lacht (1995) zwei Tatort-Meilensteine. Dazwischen demonstrierte er im Kino seine Wandlungsfähigkeit und Virtuosität: Der Kitchen Sink- und Biker-Film Treffer (1984) entwickelte sich zum Schlüsselwerk einer Generation; Die Katze (1988) ist schlichtweg der beste Krimi, den je ein bundesdeutscher Regisseur zustande gebracht hat. Der Versuch, an diesen
raren Kritiker- und Kassenerfolg mit dem Action-Paranoia-Fresko Die Sieger (1994) anzuschließen, scheiterte – ein Meisterwerk manqué, das Grafs Karriere fast beendete. Hatte er bis dahin das Fernsehen als wertvolle Möglichkeit betrachtet, wurde es nun zur
Wahlheimat, die er nur mehr selten verlässt. Kino machte er dennoch immer, vom Kopf her.
Ende der 90er begriff Graf, dass er die prinzipiellen Möglichkeiten des Konzepts „Genre“ ausgeschöpft hatte – und erfand sich
neu, mit seinem ersten Essayfilm: Das Wispern im Berg der Dinge (1997) wurde zum (Selbst-)Porträt im Spiegel seines früh verstorbenen Vaters. Seine Erzählweise wurde fragmentierter, flüssiger,
und „Genre“ geriet nun zum Baukasten, der Hybride aller Art ermöglicht: Die Freunde der Freunde (2002) – Coming of age-Drama und metaphysisches Schauermärchen; Das unsichtbare Mädchen (2012) – Heimatfilm und Rachekrimi; Das Gelübde (2007) – Künstlerbiografie und politischer Historienthriller. Wie Dominik Graf, der berühmteste Unbekannte der deutschsprachigen
Medienlandschaft, sind sie vieles auf einmal, einzigartig, sich widersprechend, sicher zwischen allen Stühlen über den Dingen
schwebend.
Der Graf-Schwerpunkt des Filmmuseums besteht aus mehreren Teilen. Die Werkschau in Anwesenheit des Regisseurs wird ergänzt durch das Buch Dominik Graf von Christoph Huber und Olaf Möller (Band 18 der FilmmuseumSynemaPublikationen). Darüber hinaus leitet Graf gemeinsam mit
Ralph Eue eine Lehrveranstaltung am TFM der Universität Wien – ein Blockseminar im Filmmuseum. Der „erste Akt“ des Gesamtprojekts
findet bereits Mitte März auf der Diagonale statt: In Kooperation mit dem Filmmuseum widmet das Festival dem Regisseur einen
speziellen Tribute zu seinen Arbeiten im Krimigenre.
Zusätzliche Materialien
Programm:
- Autostop rosso sangue (Wenn du krepierst – lebe ich!) (1977)
- Bittere Unschuld (1999)
- Das Gelübde (2007)
- Denk ich an Deutschland – Das Wispern im Berg der Dinge (1997)
- Der Fahnder – Baal (1992)
- Der Fahnder – Bis ans Ende der Nacht (1992)
- Der Felsen (2002)
- Deutschland '09 – Der Weg, den wir nicht zusammen gehen (2009)
- Die Freunde der Freunde (2002)
- Die Katze (1988)
- Die Sieger (1994)
- Don't Look Now (1973)
- Dreileben – Komm mir nicht nach (2011)
- Eine Stadt wird erpresst (2006)
- Hotte im Paradies (2002)
- La Collectionneuse (Die Sammlerin) (1967)
- La Crime (Wespennest) (1983)
- Meet Dominik Graf: Zur Eröffnung
- Night Moves (Die heiße Spur) (1975)
- Tatort – Frau Bu lacht (1995)
- Treffer (1984)