Sans soleil (Ohne Sonne)

Chris Marker

5. bis 31. Mai 2007

  

Der französische Filmemacher, Fotograf und Schriftsteller Chris Marker spielt eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des modernen Kinos: Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat er sich in einzigartiger Weise dem Verhältnis von Bild und Gedächtnis gewidmet und mit filmischen Mitteln eine Geschichte seiner Zeit geschrieben.
 
Im Gegensatz zu Jean-Luc Godard, seinem großen Gegenüber, ist Marker „der Mann im Hintergrund" geblieben, geheimnisumwittert und abgewendet von der medialen Öffentlichkeit. Seine viel zitierten Klassiker – die Science-Fiction-Story La Jetée (1962), der Cinéma-vérité-Meilenstein Le Joli Mai (1963), die bewegenden Bilder-Reflexionen Le Fond de l'air est rouge (1977/93) und Sans Soleil (1983), seine autobiografische CD-Rom Immemory (1997) – gründen in einem reichen Gesamtœuvre, das selbst unter Cinephilen nur rudimentär bekannt ist.
 
Diesem Umstand möchte die Marker-Retrospektive des Filmmuseums aktiv begegnen: Sie offeriert 35 Werke, zwei große Vorträge von Raymond Bellour und Thomas Tode und eine Anzahl weiterer Filme, die Chris Markers Ideenwelt und seine „Kino-Allianzen" illustrieren können, darunter Arbeiten von Hitchcock, Tarkovskij, Resnais, Kurosawa und Aleksandr Medvedkin.
 
Chris Marker, 1921 unter dem bürgerlichen Namen Christian François Bouche-Villeneuve geboren, wird häufig als „Filmessayist" bezeichnet, was auf den Anfang seiner Laufbahn verweist: Erst nach einem Philosophiestudium und Tätigkeiten als Literat und Fotograf kommt er durch seinen Freund Alain Resnais zur praktischen Filmarbeit; mit ihm realisiert er seinen ersten Kurzfilm, Les Statues meurent aussi (1950-53).
 
Von Beginn an ist Marker auch ein Kino-Aktivist: Mit Resnais, Henri Colpi und Agnès Varda bildet er zu dieser Zeit die Gruppe der „Rive Gauche", die (im Gegensatz zur „Rive Droite" um Rivette und Godard) politische Fragestellungen stärker ins Zentrum ihrer Arbeit rückt.
 
Sein kinematografisches Vokabular entwickelt Marker als filmender Flaneur: Ungewöhnliche Reisefilme (die er heute nicht mehr zeigen will) tragen ihm den Ruf eines „filmenden Montaigne" ein, der in brillanter Weise die Konventionen des Kommentars im Dokumentarfilm in Frage stellt. Als einer der ersten westlichen Filmemacher reist er Ende der 50er Jahre in die Sowjetunion, nach China und Kuba und reflektiert früh die Methoden des politisch engagierten Kinos.
 
In stetem Dialog mit seiner Zeit fungiert er wenig später auch als „Kopf" hinter dem Gruppenfilm Loin du Viêt-nam (1967) und den agitatorischen Ciné-tracts des Mai '68. Danach widmet er sich mit dem Filmkollektiv „Slon" für einige Zeit der konkreten Herstellung von Gegenöffentlichkeit (On vous parle). Sein fulminanter Montagefilm Le Fond de l'air est rouge zieht schließlich eine eindrucksvolle Bilanz über die Geschichte der Linken und deren Anspruch, die bestehenden Verhältnisse zu verändern.
 
Wie kaum ein anderer Filmemacher seiner Generation ist Marker stets an technischen Neuerungen interessiert: Als einer der ersten Dokumentaristen experimentiert er mit synthetischen Tönen und elektronischen bzw. digitalen Bildern; er beschäftigt sich mit Video-Games und konzipiert selbstreflexive Installationen wie Zapping Zone (1990).
 
In diesem Sinn kann Markers Werkbiografie auch wie eine umfassende Mediengeschichte seit 1945 gelesen werden: Er verfasst Gedichte, Essays und einen Roman; er publiziert Zeitschriften, Reiseführer und Fotobücher, die Filmen gleichen – und er macht Filme, die nur aus Fotos bestehen; er arbeitet mit 16mm- und 35mm-Film, mit dem frühen Videoformat, mit S-VHS, High-8 und mit digitalen Kameras; sein interaktives Werk Immemory wird zum Musterbeispiel für die künstlerisch-autobiografischen Potentiale der Hypermedien.
 
Noch im hohen Alter geht Marker mit der Kamera „auf die Straße" oder in die Kriegsgebiete des Balkan, auf der Suche nach jenen Schnittstellen zwischen dem individuellen Leben und dem Menschheitsgedächtnis, die er seit 60 Jahren bearbeitet: genuiner auteur des Kinos, politischer Mensch, Miterfinder einer Kultur des wachsamen, poetischen, subversiven Mediengebrauchs.
 
Eine Veranstaltung des Filmmuseums in Kooperation mit Navigator Film, unterstützt vom Fachverband der Film- und Audiovisionsindustrie.