O dragão da maldade contra o Santo Guerreiro, 1969, Glauber Rocha

Brasilien. Cinema Novo und tropische Moderne, 1926-2003

25. Mai bis 26. Juni 2005

 

Im Rahmen der Wiener Festwochen 2005 präsentiert das Filmmuseum eine umfangreiche Retrospektive des brasilianischen Kinos. Es ist die größte und aufwendigste Schau zu diesem Thema, die je in Österreich veranstaltet wurde: Ihr Zeitraum reicht von der Avantgarde der 1920er Jahre bis zum Kino der Gegenwart, die Filme sind zum Teil erstmals in Europa und vielfach in neu restaurierten Fassungen zu sehen.

 
Die rund 50 Werke umfassende Auswahl wird geleitet von der bedeutenden Rolle des brasilianischen Films im Wechselspiel mit den starken Aufbruchsbewegungen, "Modernismen" und populär-oppositionellen Kunstströmungen, die dieses Land seit nahezu hundert Jahren auszeichnen.
 
Im Mittelpunkt steht das Cinema Novo, die weltweit gefeierte und äußerst einflussreiche Erneuerung des brasilianischen Kinos in der 60er Jahren, die mit Filmen wie Bahia de Todos os Santos (1960), Vidas secas (1963), Os fuzis (1963), Porto das Caixas (1963) und Deus e o diabo na terra do sol (1964) in Bewegung kam. Beeinflusst vom italienischen Neorealismus und der Nouvelle Vague und getragen von Regisseuren wie Glauber Rocha, Nelson Pereira dos Santos, Ruy Guerra oder Carlos Diegues, blieb das Cinema Novo weit über den Beginn der brasilianischen Militärdiktatur (1964) hinaus prägend für den politisch-kulturellen Diskurs. Es entstand auf der Basis wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Modernisierungsbestrebungen unter Präsident Kubitschek in den späten 50er Jahren – einer zutiefst optimistischen Ära, die ihre Symbole im Bereich der Architektur (Lúcio Costas und Oscar Niemeyers Brasilia, die neue Hauptstadt) und der populären Musik (der globale Siegeszug des Bossa Nova), aber auch in der Alltagskultur fand: 1958 wurde Brasilien mit Spielern wie Pélé und Garrincha zum ersten Mal Fußballweltmeister.

 
Vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Polarisierung und politischer Militanz trat das Cinema Novo mit seiner "Ästhetik des Hungers" ab 1960 als emphatisches und kritisches Korrektiv für die brasilianische Gesellschaft auf – bis hin zur Radikalkritik, wie sie in Glauber Rochas wildem Meisterstück Terra em transe (1967) formuliert wird. Der "tragische Karneval der brasilianischen Politik" (Rocha) in den 60er Jahren konnte der filmkulturellen Hegemonie der Linken lange Zeit nichts anhaben; erst die verschärfte Repression nach dem zweiten Militärcoup (1968) machte eine Veränderung der Strategien nötig: vom Ausweichen in die populären Allegorien des Tropicalismo – wie in dem überbordenden Macunaíma von Joaquim Pedro de Andrade – über die Etablierung eines sehr lebendigen Underground-Kinos und einer "Ästhetik des Abfalls" (z.B. Bangue Bangue von Andrea Tonacci oder die Horrorfilme des Kultregisseurs José Mojica Marins) bis hin zum Gang ins Exil, nach Kuba oder Europa (wie im Fall von Rocha, Guerra und Diegues).
 
Die brasilianische Kino-Moderne lässt sich allerdings nicht auf das Cinema Novo reduzieren. Schon in den 20er Jahren suchten brasilianische Künstler Anschluss an die internationale Avantgarde und erhoben zugleich den Anspruch auf eigenständige, nationale Formen der Moderne – wie im literarischen Modernismo oder in Oswald de Andrades Movimento antropófago ("Kannibalistische Bewegung": die Einverleibung fremder Einflüsse), welche bis heute immer wieder aufgegriffen werden. Die vielstimmige Verbindung von Modernität, Folklore, populären Ausdrucksformen und den unterschiedlichen Erfahrungen der Eingeborenen, der ehemaligen Sklaven sowie der ehemaligen Kolonisatoren ist für Brasiliens "tropischen Multikulturalismus" (Robert Stam) eine wesentliche Strategie geblieben.
 
Filme wie São Paulo, a symphonia da metrópole (1929), Limite (1931, Geniestreich und einziger Film des 20jährigen Künstlers Mário Peixoto) oder Braza dormida und Ganga bruta (zwei Hauptwerke des großen auteurs Humberto Mauro) zeugen vom Einfluss der westlichen wie der brasilianischen Avantgarde auf das Kino. Mauro und später auch Peixoto wurden zu wichtigen Vorbildern für das Cinema Novo und Cinema Marginal. Der vielleicht bekannteste brasilianische Filmavantgardist, Alberto Cavalcanti, war in den 20er und 30er Jahren ausschließlich in Europa aktiv, seine frühen Werke wie Rien que les heures (1926) wirkten allerdings stark auf die heimische Kunstszene zurück. Den umgekehrten "Wirkungsweg" beschreibt Orson Welles' brasilianisch-US-amerikanischer Dokumentarfilm It's All True (1942), der erst 1993 – in einer Rekonstruktion des überlieferten Materials – vorgestellt wurde: Dieser "linksliberale film maudit", der für Welles' Bruch mit Hollywood mitverantwortlich war, ist später von brasilianischen Regisseuren (vor allem im Werk von Rogério Sganzerla) immer wieder zitiert und "weitergeschrieben" worden.
 
Auch seit dem "offiziellen Ende" des Cinema Novo (Mitte der 70er Jahre) hat sich das brasilianische Kino mit einer Vielzahl avancierter, "polyphoner" und selbstreflexiver Positionen hervorgetan. Ab 1974 wurden sowohl demokratische als auch filmpolitische Fortschritte sichtbar: Der Ausbau staatlicher Filmförderung führte zu einer Situation, in der künstlerisch und ökonomisch erfolgreiche, zum Teil sozialkritische Autorenfilme als internationale "Visitenkarten" einer langsam abflauenden Diktatur fungierten. Dazu zählen herausragende Spätwerke der Cinema-Novo-Generation wie A Queda von Ruy Guerra oder Bye Bye Brasil von Carlos Diegues, aber auch Arbeiten jüngerer Regisseure wie der Welterfolg Pixote (1980) des aus Argentinien emigrierten Hector Babenco.
 
Nach einer längeren Krise Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre, in der die Filmproduktion fast zum Stillstand kam (paradoxerweise in der Zeit der ersten demokratisch gewählten Zivilregierung seit 1964), ist das brasilianische Kino seit einigen Jahren wieder aufgeblüht – in lebendiger Beziehung zur zeitgenössischen Populärkultur. Die Mythologien des Sertão (des feudal geprägten Hinterlands im Nordosten Brasiliens) und des Cangaço (soziales Banditentum) kehren allerdings ebenso aus der Zeit des Cinema Novo zurück wie die Debatten um eine nationale Identität – bzw. das "schlechte Gewissen" oder der Zorn angesichts anhaltender und massiver Ungerechtigkeit zwischen den Klassen und Kulturen.
 
Ein Sektor, in dem diese Fragestellungen auf sehr avancierte und selbstkritische Weise aufgegriffen werden, ist der Dokumentarfilm. Eduardo Coutinho, der größte Filmdokumentarist seines Landes, untersucht mit Mitteln des Cinéma vérité und des Essayfilms die soziale Wirklichkeit und die politische Geschichte Brasiliens – z.B. in seinem Meisterwerk Cabra marcado para morrer (vinte anos depois), das im gefährlichen Wendejahr 1964 begonnen und erst 1984, im "entgegengesetzten" Wendejahr, fertiggestellt wurde. Andere Arbeiten wie der semidokumentarische Spielfilm Iracema (1975) von Jorge Bodansky oder der Essay Mato eles? (1983) von Sérgio Bianchi lösten einen komplexen Nachdenkprozess über das Verhältnis des modernen Brasilien zu seinen Ureinwohnern aus.
 
Zuletzt sind auch die selbstreflexiven Filme, die vom Kino selbst erzählen, in Brasilien ungewöhnlich stark vertreten: Neben Rogério Sganzerlas Brasil und Nem tudo é verdade (1978-85, zum Orson-Welles-Komplex) stellt die Retrospektive aktuelle Filmessays über die wilde Schönheit im Werk von Regisseuren wie Mário Peixoto, José Mojica Marins oder Glauber Rocha vor. Mit ihnen schließt sich ein Kreis: In seinen überzeugendsten Manifestationen ist das brasilianische Kino bis heute eine Geschichte der Passionen und ein Fall für leidenschaftliche Utopisten und Rebellen geblieben.
 
Diese außergewöhnliche Retrospektive konnte nur dank der großzügigen Unterstützung vieler Institutionen und Personen realisiert werden. Der Dank des Filmmuseums gilt vor allem Carlos Magalhães und Fernanda Guimarães (Cinemateca Brasileira), Paulo Roberto da Costa Pacheco (Brasilianische Botschaft in Wien), Ingrid Starke (Instituto Cultural Brasileiro na Alemanha, Berlin), dem Kultur- und dem Außenministerium Brasiliens sowie Fritz Frosch, Olaf Möller und Robert Stam.