The Naked Kiss, 1964, Samuel Fuller

Samuel Fuller
Das Gesamtwerk

4. Februar bis 2. März 2006
 
Der amerikanische Regisseur Samuel Fuller (1912–1997) ist eine der legendären Figuren des Kinos: einer der „großen Primitiven“, ein extravaganter Stilist, für dessen Ästhetik man – in Analogie zu Dziga Vertovs „Kino-Auge“ – den Begriff „Kino-Faust“ prägte, und eine Ikone des unabhängigen Denkens im Studiosystem. Sein eben­so unverblümtes persönliches Auftreten untermauerte diesen Eindruck. Eine von Fullers zahlreichen Kleinrollen in Filmen seiner Bewunderer (die Liste reicht von Steven Spielberg bis zu den Brüdern Kaurismäki) hat das Programm für seine Rezeption vorgegeben. In Jean-Luc Godards Pierrot le fou verkündet er in einer grellbunten Party-Szene: „Film is like a battle­ground. Love, hate, violence, action, death. In one word: emotion.“
 
Trotz seiner nachhaltigen Wirkung ist Fullers Werk nur sehr sporadisch zu sehen. Im Februar präsentiert das Filmmuseum erstmals in Österreich eine Retrospektive sämtlicher Kinofilme. Zu entdecken ist dabei nicht nur die wüste Kraft der „Kino-Faust“, sondern auch ein durch und durch ikonoklastisches Weltbild – Fullers Filme liefern eine ebenso hellsichtige wie hysterische Geschichte der USA nach 1945. Kaum ein anderer Künstler hat dem Genrefilm-Dreieck Action-Machismo-Melodram ein vergleichbar politisches Œuvre abgerungen.
 
Die Ideen in Fullers Kino sind untrennbar mit seiner Biografie verwoben: Er ist einer der letzten Hollywood-Regisseure, die vor ihrer Filmkarriere ausgiebig „gelebt“ haben. Die zwei prägenden Phasen seines Lebens, bevor er 1949 mit dem ungewöhnlichen Western I Shot Jesse James sein Regiedebüt gab, waren die Jahre im New Yorker Zeitungsgeschäft, wo er schon als Teenager über Verbrechen berichtete, und seine Zeit als Frontsoldat in Afrika und Europa während des Zweiten Weltkriegs. Sie bilden auch die autobiogra­fische Grundlage für zwei seiner wichtigsten Filme, die das Werk gleichsam einklammern: So wie sich Fullers selbstfinanzierter Lieblingsfilm Park Row (1952), ein enthusiastischer Tribut an die New Yorker Zeitungsstraße in den 1880er Jahren, auch als „Kriegsfilm“ über den Kampf zwischen Auflage und Wahrheit sehen lässt, ist sein schillerndes Opus magnum, der Kriegsfilm The Big Red One (1980), zugleich eine enzyklopädische Reportage über die Front­erfahrung, bis hin zur Detail-Einstellung der Klopapierrolle, die es bei der Normandie-Invasion trocken an Land zu bringen gilt.
 
Zwischen diesen Extremen – und Fullers Konfrontationskino ist stets in extremis gestaltet, vom Montage-Stakkato über die wilden Einstellungswinkel zu den markigen Pulp-Dialogen – liegt eine gleichermaßen lyrische wie brutale Erforschung der kritischen Punkte im Selbstverständnis der USA. Gegensätzliches wird dabei nicht geglättet, sondern geradezu angestrebt. Fullers Bekenntnis zur Wahrheitssuche, zur journalistischen Präsentation von „hard-hitting facts“, geht einher mit dem Willen zur maximalen Sensations­wirkung: „Mit der ersten Einstellung muss man den Zuseher bei den Eiern packen und darf ihn nie wieder loslassen.“ Dementsprechend war ihm das extremste Filmformat auch das liebste: Das ­CinemaScope-Kino ist in House of Bamboo oder Forty Guns auf kaum einholbare Weise auf den Punkt gebracht.
 
Als überzeugter Amerikaner und Verfechter der demokratischen Gründungsgedanken rannte Samuel Fuller aus dem Herzen des Imperiums gegen dessen bigotte Grenzen an. Egal, ob in Filmen über die Auseinandersetzungen „draußen“ – wie in den grandiosen Korea-Kriegsfilmen The Steel Helmet und Fixed Bayonets!, die ihm 1951 den Durchbruch brachten – oder „drinnen“: Die Komplexität seiner Entwürfe ist im populären US-Kino nahezu unerhört. In Hauptwerken wie Pickup on South Street, Run of the Arrow, The Crimson Kimono, The Naked Kiss und White Dog lodern unauslöschlich soziale, politische und ethnische Konflikte. Das Porträt der USA als Irrenhaus in seinem grellsten Meisterwerk Shock Corridor ist in diesem Sinne emblematisch: Fuller wurde gleichermaßen als „Linksradikaler“ und als „Kommunistenhasser“ attackiert, tatsächlich hatte er sich aber nur einer einzigen Ideologie verschrieben, ­seinem bedingungslosen Glauben an die Freiheit.