Merci pour le chocolat, 2000, Claude Chabrol

Die heillose Familie (1): Claude Chabrol

1. bis 30. April 2006
 
Unter den zentralen Regisseuren der Nouvelle Vague hat sich Claude Chabrol als der große Genre-Auteur etabliert: Ein Gutteil seines Werks besteht aus Kriminalfilmen, die mit außerordentlicher, dabei unaufdringlicher formaler Raffinesse und ironischer Ambivalenz die Abgründe der französischen Bourgeoisie untersuchen. Das hat ihm vorrangig den Ruf eines Gesellschaftskritikers eingetragen, aber seine zweite große Triebfeder ist das Kino selbst, die Lust am Spiel mit dem Medium.
 
Geboren 1930 in Paris und während der deutschen Besatzung am Land aufgewachsen, kehrt Chabrol nach dem Krieg in die Hauptstadt zurück, wo er bald Teil des Zirkels von Kritikern und angehenden Regisseuren rund um die Cahiers du cinéma wird. 1957 verfasst er mit Eric Rohmer eine bahnbrechende Studie über Hitchcock – einen jener Regie-Klassiker (neben Lang, Murnau und Lubitsch), deren Ideen er filmisch weiterdenken wird.
 
Dank einer Erbschaft kann er 1958 den ersten, rauen Langfilm der Nouvelle Vague realisieren: Le Beau Serge. Der verdiente Erfolg ermöglicht ihm ein Arbeitsprinzip, das für das Verständnis seines Gesamtwerks unerlässlich ist: eine konstante Produktion, die mit durchaus wechselhaften Resultaten unterschiedliche Genres durchmisst.
 
Die schiere, ansteckende Freude am Filmemachen ist der Motor von Chabrols Schaffen; charakteristisch dafür ist auch, dass er als Geldgeber (bei den Debüts von Rohmer und Jacques Rivette) und als technischer Berater (für Jean-Luc Godards Erstling) die eigentliche „Hebamme“ der Nouvelle Vague war.
 
In seinem ersten großen Meisterwerk Les Bonnes Femmes (1960) spielen die „typischen Chabrol-Faktoren“ – Krimi-Konstruktion, bourgeoise Lebenswelt – noch eine untergeordnete Rolle. Doch im unsentimentalen wie mitfühlenden Blick auf die Hoffnungen und sozialen Zwänge im Leben von Pariser Verkäuferinnen, im formalen Erfindungsreichtum, in der superben Schauspielerführung und vor allem in seiner Offenheit und Verstörungskraft ist dieser Film das erste Herzstück im Gesamtprojekt von Claude Chabrol.
 
Die Arbeiten seiner berühmtesten Periode von 1968 bis 1974 – eine Serie meisterhafter Kriminalfilme, deren Idiom er mit La Femme infidèle mustergültig definierte und mit Hauptwerken wie Le Boucher und La Rupture noch verdichtete – sind von derselben schillernden Ambivalenz geprägt: Mit dem fasziniert-neugierigen Blick eines Insektenforschers untersucht Chabrol darin moralische Korruption, Ignoranz und tragikomische Selbsttäuschungen des Bürgertums.
 
Der ironische Handlungsverlauf von Juste avant la nuit ist prototypisch: Ein Mann ermordet seine Geliebte, die Frau seines besten Freundes, aber weder Ehefrau noch Freund wollen ihn für den „Unfall“ zur Rechenschaft ziehen, das wäre ein Hindernis für das reibungslose Funktionieren des Gesellschaftssystems.
 
Erst durch den Wunsch nach einem Geständnis wird der Mann zum „Problem“. Die Familie spielt hier und anderswo eine Schlüsselrolle bei Chabrol – sie ist eine Urzelle dieses Systems, sie garantiert dessen Weiterbestehen.
 
In einer Auswahl von mehr als 20 Filmen zeigt das Filmmuseum nicht nur die Hauptwerke, sondern auch lange vernachlässigte, „untypische“ Beispiele für Chabrols Arbeit – darunter die dunkle, irritierende Voice-over-Komödie L'Œil du malin (1962) oder den faszinierenden Schlüsselfilm über die Ehekrise seines Drehbuchautors Paul Gégauff, Une partie de plaisir (1975).
 
Chabrols Bearbeitungen historischer Kriminalfälle wie Violette Nozière (1978) und Une affaire de femmes (1988) sind ebenso vertreten wie ein prononcierter Tribut an die jüngste Hochblüte in seinem Werk: vom Meisterstück La Cérémonie (1995) bis zur Österreich-Premiere seines soeben in Berlin uraufgeführten Films L'Ivresse du pouvoir.
 
In den vier zuletzt genannten Filmen spielt Isabelle Huppert die Hauptrolle. Ihre stilistische Bandbreite und Spiellust macht Huppert zur adäquaten Partnerin für den späten, klassizistischen Chabrol: zwei Alleskönner, die gelassen, mit gleich viel Ernst und Leichtigkeit zur Arbeit gehen.

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