Arsenal, 1929, Aleksandr Dovženko

Kino-Revolution Teil 1
Der russische Film 1918-1929

10. bis 31. Mai 2006

  

Die Klassiker des sowjetrussischen Stummfilms sind bis heute ein unumgänglicher Referenzpunkt für jede Diskussion über ein künstlerisch und zugleich politisch virulentes Kino geblieben: Die jungen, von der Revolution und der schieren Kino-Lust entflammten Künstler der 1920er Jahre haben Filme gedreht, die heute ebenso frisch und unverbraucht erscheinen wie ihre Manifeste und theoretischen Schriften.
 
Lenins viel zitiertes Diktum aus dem Jahr 1922 – „... dass für uns von allen Künsten die Filmkunst die wichtigste ist“ – wurde von ihnen mit Begeisterung in die Tat umgesetzt: Sie propagierten nicht nur den Aufbau einer neuen Gesellschaft, sondern auch neue Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen in sämtlichen Genres, eine neue Form des Denkens in und mit Film.
 
„Das Leben war so interessant, und keiner von uns zweifelte daran, dass die Zeit für eine neue Kunst gekommen sei. Diese Kunst sollte kühn sein, so kühn wie die Arbeitermacht und so rücksichtslos, wie es die Revolution gegen über allem Alten ist.“ (Grigorij Kozincev)
 
Die jungen Filmschaffenden standen in engem Kontakt mit den Erneuerern anderer Kunstsparten – mit bildenden Künstlern wie Rodčenko und Malevič, Theatermachern wie Meyerhold und Schriftstellern wie Majakovskij (dessen frühe Co-Regie Das Fräulein und der Rowdy aus dem Jahr 1918 zu Beginn der Retrospektive zu sehen ist).
 
Sie begeisterten sich für Futurismus und Konstruktivismus, aber auch für die Populärkultur, für das Groteske und das Exzentrische – und für das „Amerikanische“ am Kino, das ihnen als wunderbares Gegengift zur trägen, psychologisierenden Kultur des Bürgertums erschien. Als Titel wie als Film ist Lev Kulešovs Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Land der Bolschewiken (1924) überaus vielsagend.
 
Man stand der „Linken Front der Kunst“ nahe, versuchte Filmtheorie, Filmpolitik und Filmpraxis zu versöhnen und begeisterte sich zugleich für die Rasanz und den überaus „körperlichen“ Stil des Slapstick- und Abenteuerkinos aus den USA.
 
Die Pioniere dieser stürmischen Ära sind im ersten Teil der Retrospektive mit jeweils mehreren Werken vertreten. Neben Dziga Vertov sind dies vor allem Lev Kulešov, der erste Theoretiker der Montage, und die Begründer der „Fabrik des exzentrischen Schauspielers“ (FEKS) in St. Petersburg, Grigorij Kozincev und Leonid Trauberg – prominente Namen der Filmgeschichte, deren konkretes Werk allerdings kaum je zu sehen ist.
 
In beiden Fällen trifft thematische Vielfalt auf inszenatorische Meisterschaft, z.B. was ihre bahnbrechenden Literaturverfilmungen anbelangt: Kulešovs Jack-London-Adaption Nach dem Gesetz und die vor Ideen sprühende Gogol'-Bearbeitung Der Mantel von Kozincev/Trauberg (beide aus dem Jahr 1926) sind absolute Höhepunkte der Stummfilmära ebenso wie Mr. West oder der bekannteste FEKS-Film Das neue Babylon über den Kampf der Pariser Commune im Jahr 1871.
 
In der Schau kommen auch die kanonischen „Schulbeispiele“ der 20er Jahre zur Aufführung: Vsevolod Pudovkin, ein Schüler Kulešovs (als Schauspieler wie als Regisseur und Theoretiker), wird mit seiner kurzen Komödie Schachfieber und seinem mächtigen Dreischritt aus den Jahren 1926-29 (Die Mutter, Das Ende von St. Petersburg, Sturm über Asien) vorgestellt.
 
Der große Film-Lyriker Aleksandr Dovženko, Sohn eines ukrainischen Bauern, ist im ersten Teil der Schau mit dem unverzichtbaren Revolutionsfilm Arsenal, aber auch mit seinem wundersamen Frühwerk Früchtchen der Liebe vertreten (Aerograd, ein weiteres Hauptwerk dieses Regisseurs, findet sich im Zyklischen Programm dieses Monats).
 
Ėsfir Šub faszinierender Kompilationsfilm aus Filmdokumenten rund um die Revolution, Der Fall der Romanov-Dynastie, steht neben den begeisternden Stadt/Land-Komödien des Ex-Boxers und Schauspielers Boris Barnet – Das Haus in der Trubnaja-Straße und Das Mädchen mit der Hutschachtel.
 
Die Filmauswahl der Retrospektive belegt, dass das sowjetische Kino dieser Epoche nur zu einem gewissen Teil aus „Politik“ und „Montage“ besteht: Die große Bandbreite an Genres, Erzählweisen und Stilmitteln macht den eigentlichen Reichtum dieser Jahre aus.
 
Der 1923 aus der Berliner Emigration heimgekehrte Publikumsliebling Jakov Protazanov setzte seine vorrevolutionäre Regiekarriere mit dem Fantasy-Epos Aelita und mit herausragenden Abenteuerkomödien fort (Der Drei-Millionen-Prozess, Don Diego und Pelageja); der Meyerhold-Schüler Abram Room bewältigte eine naturalistische Satire über die „freie Liebe“ zu dritt (Bett und Sofa) ebenso überzeugend wie expressionistische Filme, die sich der Logik des Traums anvertrauten; der junge Fridrich Ėrmler, ein ehemaliger Rotarmist, verankerte seine hochgradig politischen Sujets in detaillierten Charakterstudien und umgab sie mit extravaganten formalen Einfällen (Der Mann, der sein Gedächtnis verlor).
 
Bei aller Vielfalt haben die drei zuletzt genannten Regisseure eines gemein: Ende der 20er Jahre genossen sie fast ebenso viel Aufmerksamkeit wie Eisenstein, Vertov oder Pudovkin; heute sind sie praktisch unbekannt – und überreif für eine Wiederentdeckung.
 
Die Retrospektive „Kino-Revolution“ findet mit großzügiger Unterstützung der ERSTE BANK statt. Ein spezieller Dank gilt Vladimir Dmitriev (Gosfilmofond, Moskau), Robert Gerschner und Guido Bruck im Außenministerium, sowie Barbara Wurm für ihre Beratung.

Zusätzliche Materialien