Stromboli, 1950, Roberto Rossellini

Roberto Rossellini und der italienische Neorealismus

10. Jänner bis 8. Februar 2007

 

Der italienische Neorealismus der 1940er und 50er Jahre war die einschneidendste Bewegung der Kinogeschichte. Die Jänner-Retrospektive des Filmmuseums ist dieser Epoche gewidmet und legt zugleich einen Schwerpunkt auf das Schaffen von Roberto Rossellini (1906–1977), der heute als zentrale Gestalt in der Kultur des 20. Jahrhunderts gilt.
 
Rossellinis Welterfolg Roma, città aperta (1945) verhalf dem Neorealismus zu rascher Bekanntheit. Noch während der NS-Besatzung Italiens geplant und unmittelbar nach der Befreiung gedreht, wurde diese Dramatisierung des Partisanenkampfes – gemeinsam mit Vittorio De Sicas Ladri di biciclette (1948) – zum Grundmodell für die neorealistische Ästhetik: ein "armes" Kino, das den ganzen Reichtum menschlicher Erfahrung zu repräsentieren vermag.
 
Als symbolische Wiedergeburt des Mediums nach dem Zweiten Weltkrieg begründete der Neorealismus eine neue Filmtradition, einen Gegenstrom zum glamourösen Hollywood-Entertainment ebenso wie zu den Mustern des Propagandafilms. Seitdem hat er als Inspirationsquelle weltweit ganze Bewegungen, vom Cinéma vérité bis zu Dogma 95, und immer wieder bedeutende Regisseure geprägt, sei es in den USA (Cassavetes, Scorsese), Indien (Satyajit Ray) oder Senegal (Ousmane Sembène).
 
Die Retrospektive zeichnet parallel den Weg Roberto Rossellinis und die Entwicklung des Neorealismus nach, von der faschistischen Ära bis in die späten 50er Jahre. Am Beginn der Filmauswahl stehen zwei Raritäten aus der Saison 1941/42, als der Begriff neorealismo von italienischen Kritikern erstmals benutzt wurde: Rossellinis semidokumentarischer Film La nave bianca und Francesco De Robertis' brillanter Alfa Tau! Beide waren Teil einer Trilogie über den Seekrieg und standen unter der Gesamtleitung von De Robertis – einem Wegbereiter des Neorealismus, der zugleich als Film-Offizier der italienischen Marine tätig war.
 
Am anderen Ende des Spektrums steht ebenfalls eine Seltenheit: Aldo Verganos Il sole sorge ancora (1946) ist einer der wenigen neorealistischen Filme mit kommunistischem Hintergrund, sein Co-Autor Guido Aristarco war einer der großen marxistischen Filmkritiker der Ära.
 
Die bedeutendsten Regisseure aus dem Umfeld des Neorealismus sind mit mehreren Filmen in der Auswahl vertreten: Vittorio De Sica; Luchino Visconti (der mit Ossessione 1943 einen frühen Markstein setzte); der oft unterschätzte Giuseppe De Santis (Riso amaro, Roma ore 11); Rossellinis ehemaliger Assistent und Co-Autor Federico Fellini; und schließlich Michelangelo Antonioni, der parallel zu Rossellini in den 1950er Jahren neue Wege zur Kinomoderne suchte.
 
Dazu kommen Arbeiten von Alessandro Blasetti, Luigi Zampa und Pietro Germi sowie ein raues, in der Gruppe hergestelltes Dokument über das Kriegsende: Giorni di gloria (1945) – ein Schlüsselfilm.
 
Die dokumentarische Anmutung war 1945 auch Teil der bahnbrechenden Wirkung von Roma, città aperta. Danach war ein neorealistisches Paradigma etabliert: Dreh an Originalschauplätzen, natürliches Licht, lange Einstellungen mit wenigen Nahaufnahmen, Dialoge in Umgangssprache, Figuren aus der Arbeiterklasse, oft von Laien (insbesondere Kindern) gespielt, Erzählungen mit offenem Ende.
 
Mit den Klassikern Paisà (1946) und Germania, anno zero (1947 in den Ruinen Berlins gedreht) vollendete Rossellini seine Nachkriegstrilogie und trieb die Prinzipien der neorealistischen Bewegung zu einem radikalen Höhepunkt.
 
Rossellinis Entwicklung ab 1950, die Ausweitung seiner ethischen und gesellschaftlichen Interessen, ist mancherorts als "Verrat" an der Bewegung verstanden worden. In Frankreich jedoch, unter den angehenden Regisseuren der Nouvelle Vague, wurde er mit seinem Werk der 50er Jahre zum "Vater des modernen Films" erklärt.
 
Das Kino blieb ihm weiterhin ein Fenster zur Welt, aber sein Interesse am Zeigen resultierte immer öfter in dialektischen Perspektiven, die sich einer simplen Lesart verweigern. Der Tenor seiner Schilderung des Wirkens von Franz von Assisi im Meisterwerk Francesco giullare di Dio (1950) ist ekstatische Demut; im selben Jahr stellt er mit Stromboli einen überaus nüchternen Film über ein Wunder vor. In der Hauptrolle: Hollywood-Star Ingrid Bergman.
 
Die Liebes- und Arbeitsbeziehung der beiden dauerte bis 1954 und brachte neben drei Kindern (und der steten Beobachtung durch die Skandalpresse) insgesamt sechs, zum Teil fast autobiografische Filme hervor, die zu den schönsten der Geschichte zählen, darunter Europa '51 oder Viaggio in Italia.
 
Nach der Trennung von Bergman wandte sich Rossellini einer epischen Fernsehreihe über Indien zu, aus der auch der essayistische Kinofilm India, Matri Bhumi (1957-59) hervorging. Bevor er in den 60er Jahren sein Schaffen noch einmal ganz neu wendete, kehrte er freilich zu den Geburtsstunden des neorealismo zurück.
 
Il generale Della Rovere (1959, mit dem Regiekollegen und Schauspielstar der Mussolini-Ära De Sica als Schwindler) und Era notte a Roma (1960) sind abgeklärte, zugleich ungemein bewegende Blicke zurück in die Zeit der Okkupation und resistenza. Ein Kreis schließt sich, während anderswo, z.B. in den ersten Filmen von Pier Paolo Pasolini oder Jean-Luc Godard, neue Geschichten und eine neue Gegenwart Form annehmen.
 
Die Realisierung dieser Retrospektive verdankt sich der großzügigen Unterstützung des Italienischen Kulturinstituts in Wien, der Cineteca Nazionale und der Cinecittà Holding in Rom. Mit Dank an James Quandt und Olaf Möller für die detaillierte Beratung.