Rainer Werner Fassbinder

Kontinent Fassbinder

1. bis 31. Mai 2002
 
Das Filmmuseum präsentiert im Mai eine große Schau mit Filmen von – und rund um – Rainer Werner Fassbinder. Neben ausgewählten Arbeiten des Regisseurs, von Katzelmacher (1969) über Effi Briest (1974) bis Lola (1981), sind zahlreiche Werke anderer Künstler zu sehen, die sein Kino beeinflußten, gedanklich begleiteten oder von ihm geprägt wurden.
 
Mit diesem umfangreichen Projekt wird ein Filmemacher gewürdigt, dessen Arbeit und Nachlaß heute wichtiger scheinen denn je – nicht als „Mythos“ (und damit abzuhaken), sondern als konkretes, strahlendes Beispiel für eine nahezu verlorene Form von Kino in der ersten Person, das sich gleichwohl an alle wendet, an die ganze Gesellschaft. Ein Kino, das die Träume, Gefühle und Utopien im Publikum ebenso anspricht wie die Erinnerung und den Intellekt: Fassbinders Ziel war es, „allgemeinnützliche“ Filme zu drehen. „Deutsche Hollywoodfilme, aber weniger verlogen“. Unterhaltungsfilme also, die den Erfahrungen und Einsichten eines Künstlers angemessen sind, der 1945 in Deutschland geboren wird und Ende der 60er Jahre das Kino betritt.
 
„Erst im Rückblick“, schreibt Wolfram Schütte, „wird man inne, welche comédie humaine Fassbinder mit seinem Oeuvre hinterlassen hat, wie intensiv seine filmischen Erzählungen von Menschen durchtränkt sind, von der Politik, der Geschichte und dem Alltag, den Wechseln und den Kontinuitäten im Lebenszusammenhang Deutschlands. Derart umfassend, in die Breite und Tiefe gestaffelt, ist die Bundesrepublik in keinem anderen künstlerischen Werk der Nachkriegszeit präsent. (...) In seinen Filmen hat sich keine Nation erkannt; sie wird aber in ihnen erkannt werden.“
 
„Ich möchte ein Haus mit meinen Filmen bauen. Einige sind der Keller, andere die Wände, und wieder andere sind die Fenster. Aber ich hoffe, daß es am Ende ein Haus wird.“ (Fassbinder, 1982). Aus der Ferne von 2002 betrachtet, sieht dieses Haus wie eine ganze Stadt aus, wie ein Landstrich, oder gar: ein Kontinent. Vor allem dann, wenn man die Linien verfolgt, die zu Fassbinder führen, von ihm ausgehen oder rund um seine Vorstellung von Kino, Leben und Gegenwärtigkeit gezogen werden können.
 
Die Retrospektive macht das Angebot, entlang solcher Linien – innerhalb und außerhalb von Fassbinders Werk – auf Entdeckungsreise ins Kino zu gehen. Nicht, um schlagende, kausale Beweise für Fassbinders Einflüsse und Auswirkungen zu finden, sondern um den Reichtum einer künstlerischen Idee zu erfahren, die sich von Schlagermusik ebenso inspirieren ließ wie von Weltliteratur, vom Hollywoodmelodram ebenso wie von Jean-Marie Straub; und die bei einigen jüngeren Filmemachern vielfältig weitergedacht wird – bei Francois Ozon, Aki Kaurismäki, Todd Haynes, Stanley Kwan oder Lars von Trier.
 
Für Fassbinders enorm produktives Frühwerk waren die Filme von Jean-Luc Godard und das Theater von Bertolt Brecht starke Impulsgeber, aber auch französische (Melville) und amerikanische Gangsterfilme wie White Heat von Raoul Walsh. In den folgenden Jahren orientiert er sein Kino stärker an den Melodramen von Douglas Sirk: „Ich habe sechs Filme von Douglas Sirk gesehen. Es waren die schönsten der Welt dabei“, schreibt Fassbinder im Jahr 1971. Sirk macht ihm Mut, „publikumswirksame“ Filme zu drehen; und Händler der vier Jahreszeiten (1972) oder Angst essen Seele auf (1973, eine Art freies Remake von Sirks All That Heaven Allows) sind das unmittelbare, begeistert aufgenommene Ergebnis dieses Paradigmenwechsels.
 
Zugleich aber bleibt er der zeitgenössischen Filmkunst verbunden, den radikalen Interventionen von Pasolini, Oshima, Visconti, Schroeter oder Kluge (dem er später Lola widmete). Diese Dialektik zwischen Genre- und Autorenkino bzw. zwischen emotionaler und intellektueller Durchdringung des Materials erreicht in Fassbinders Werk ab 1976 einen faszinierenden, gänzlich eigenständigen Ausdruck. Er spricht nun mehr und mehr die erhitzte deutsche Gegenwart an (Mutter Küsters‘ Fahrt zum Himmel, Die Dritte Generation, Deutschland im Herbst), als auch - im gleichen Atemzug – die jüngere deutsche Geschichte (Die Ehe der Maria Braun, Lili Marleen, Die Sehnsucht der Veronika Voss oder Lola).
 
Alle diese Arbeiten sind kraftvolle Gegenbilder zum gebräuchlichen Geschichtsunter-richt und politischen Kino: Sie handeln – wie Fassbinders gesamte Kino-Idee – von der Schnittstelle zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, wo sich Körper und Macht, Autor(ität) und Gemeinschaft, Begehren und Kapital, Bruchstücke von Trivial- und feierlicher Hochkultur, Showbusiness, Medien und Politik ineinanderschlingen. Beethoven, Goebbels und Lale Andersen. Adenauer, die Fußball-WM und „Die Capri-Fischer“ im Puff. Multinationale Computerkonzerne, Terrorismus und Karneval.
 
Mit dieser deutschen Geschichte wird auch deutsche Filmgeschichte neu in den Blick genommen: Wiederweckte Altstars (z.B. Karlheinz Böhm) treffen auf flamboyante Star-Amateure (z.B. Kurt Raab); die stete Bezugnahme auf das UFA-Kino meint sowohl Film und Literatur der Weimarer Republik (Döblin, Der blaue Engel), Eskapismus im NS-Staat (Douglas Sirk, „Lili Marleen“) und den Weg in die Emigration oder in die Verweiflung (Sybille Schmitz). Der deutsche Nachkriegsfilm spricht mit dem Oberhausener Abschied von Gestern, und dieser wieder mit Christoph Schlingensiefs „Nachruf“ auf die deutsche Kinomoderne (Die 120 Tage von Bottrop).
 
Thomas Elsaesser, der am 2. Mai im Filmmuseum eine Lecture über Fassbinder halten wird, schreibt in seinem jüngst erschienenen Standardwerk über den Regisseur: „Wenig mehr als ein Jahrzehnt hatte er, um sich durchzusetzen: Zwischen 1969 und 1982 veränderte er die Vorstellung vom modernen Kino. Dabei mußte er die deutsche Filmgeschichte umschreiben, um sich in sie einzuschreiben.“
 
Wir danken Juliane Lorenz und der Fassbinder Foundation für die Bereitstellung zahlreicher neuer Kopien. Darüber hinaus gilt unser Dank Thomas Elsaesser, Donald Richie, Wilhelm Roth (epd Film), Georg Schöllhammer (Springerin) und Andreas Ungerböck (Ray), deren Einführungen die Retrospektive KONTINENT FASSBINDER mit individuellen Perspektiven ergänzen werden.
Zusätzliche Materialien