María Candelaria, 1944, Emilio Fernández

Das Goldene Zeitalter
Film in Mexiko, 1930-1954

10. bis 28. Februar 2010
 
Von den frühen dreißiger Jahren an gehörte Mexiko für ein Vierteljahrhundert zu den schillerndsten, facettenreichsten Filmkulturen der Welt: Nur in wenigen anderen Ländern existierte eine vergleichbare Produktionsbandbreite, Genrevielfalt und Dichte von Meistern. Die kommerzielle Kraft der mexikanischen Kinematografie mitsamt ihrem Starsystem war dafür eine wesentliche Grundlage – Mexiko belieferte sämtliche spanischsprachigen Märkte Mittel- und Südamerikas und erzielte auch in Europa und den USA Kassenerfolge. In den 30er Jahren wurde das Land auch zu einem wichtigen Fluchtpunkt der europäischen Emigration – so manche faszinierende Neben­gestalt der Filmgeschichte hatte ihre (meist geheimnisumwitterte) mexikanische Periode, und ein gebürtiger Deutscher, Alfredo B. Crevenna, wurde zum produktivsten Regisseur der mexikanischen Filmgeschichte. Wenige andere Filmkulturen haben je so gebrodelt.
 
Heute sind die Reichtümer dieses Goldenen Zeitalters nahezu vollkommen vergessen: In unseren Breitengraden findet man noch eher DVD-Veröffentlichungen mexikanischer Horror- oder Ringer-­Filme als die Meisterwerke von Emilio Fernández oder Fernando de Fuentes. Die Auswahlschau des Filmmuseums bietet somit ­einen seltenen Einblick in die singuläre Schönheit dieser Kinokultur und das Genie ihrer Großmeister – allen voran der enigmatische Emilio „El Indio“ Fernández, der mit fünf Filmen vertreten ist. Sie folgt auch den mexikanischen Spuren zweier kanonischer Künstler: Sergej Eisenstein und Luis Buñuel – ersterer ein zentraler Einfluss für die Entwicklung der nationalen Filmsprache, letzterer ein Freischärler, industrienah, doch immer ein Außenseiter, dessen Werke oft genug die gängigen Themen und Zugangsweisen unterwanderten oder konterkarierten. 
 
Der Tonfilm war für Mexiko ein Segen: Endlich konnte man sich von Hollywood emanzipieren und Filme drehen, die das einheimische – des Lesens oft unkundige – Publikum mühelos verstehen konnte. Diese Freude am Eigenen traf sich bestens mit der Linie der Regierung Lázaro Cardenas, die eine Nationalisierung der Kultur anstrebte. Darunter fiel unter anderem die Förderung von ­Pro­jekten, die den indigenen Völkern, deren Traditionen und ihrem Einfluss auf das Werden einer landesspezifischen Ästhetik gewidmet waren – ­viele Hauptwerke von Fernández zählen dazu, allen voran María Candelaria (sein Spitzname „El Indio“ kam nicht von ungefähr). Die Regierung begann ab Mitte der 30er Jahre massiv Produktionen zu subventionieren, übernahm die Co-Finanzierung der CLASA-Studios und ließ sich auch auf Experimente ein – eines ­davon war Fred Zinnemanns und Emilio Gómez Muriels Redes.
 
Der künstlerisch wohl entscheidende Impuls kam allerdings von außen – aus der Sowjetunion, in Gestalt von Sergej Eisenstein, dessen unvollendeter Qué viva México! weite Teile des Kinos dieser Epoche prägte. Dafür sorgte u. a. der herausragende Kameramann Gabriel Figueroa, der als junger Mann an Eisensteins Film mitwirkte und zu einem Hauptgestalter vieler mexikanischer Klassiker wurde. Auch Emilio Fernández führte seinen Sinn für extrem plastische, manchmal forciert geometrische Kompositionen klar auf Eisenstein zurück – der wiederum von den indigenen Künsten Mexikos inspiriert war. Manche sagen, Eisenstein habe dem Land seine eigene Ästhetik „zurückvermittelt“.
 
Ein weiterer russischstämmiger Einfluss war Arcady Boytler, dessen La mujer del puerto zu den Schlüsselfilmen der Epoche zählt. Boytler war, ähnlich wie Jean Grémillon oder Werner Hochbaum, von einem brüchigen poetischen Realismus fasziniert – von der speziellen „Dreckigkeit des Wirklichen“. Zwischen diesen ­beiden Polen, den statuarischen Stilisierungen Eisensteins und dem porösen Realismus Boytlers, oszillierte das mexikanische Kino in weiterer Folge, ohne je der einen oder anderen Seite ganz den Vorzug zu geben – außer vielleicht bei Fernández, dessen Filme stets zum Archaischen und Prinzipiellen tendieren, in einem Revolutionsfilm wie Enamorada ebenso wie in seinen Melodramen.
 
Das Melodram war für das künstlerisch ambitionierte Kino dieser Periode das zentrale Genre. Egal, ob Fernández (Flor silvestre), ­Julio Bracho (Distinto amanecer), Fernando de Fuentes (La mujer sin alma) oder Roberto Gavaldón (La diosa arrodillada): alle drehten Melodramen – manchmal mit einem Zug zum Surreal-Verstiegenen (wie Buñuel), oft aber auch mit einer straßenstaubigen Nüchternheit im Tonfall wie etwa Alejandro Galindo in seinem sozialkritischen Meisterwerk Campeón sin corona. Sie konnten sich dabei auf ein System von Stars stützen, die weit über Mexiko hinaus Berühmtheit erlangten: María Félix, genannt „La Doña“, Dolores del Río, ­Pedro Armendáriz oder Arturo de Córdova waren Ikonen der populären Mythologie – und in jeder Hinsicht mit den Stars des klassischen Hollywood-Kinos vergleichbar. 
 
In den 50er Jahren erreichte die mexikanische Filmproduktion ­ihren Höhepunkt – und hörte zugleich auf, als Industrie zu funktionieren: Das staatsmonopolistische System brach zusammen, das Fernsehen tat ein Übriges. Was von dieser Ära bleibt, sind die Filme selbst, die schönsten Zeugen einer ganz eigenständigen und wirkmächtigen Kinokultur, die in der Filmgeschichte ihresgleichen sucht.
 
Die Retrospektive findet mit Unterstützung der Mexikanischen Botschaft und in Zusammenarbeit mit der Filmoteca de la UNAM (Mexico City) statt. Unser besonderer Dank gilt Rafael Donnadío, Leiter des Mexikanischen Kulturinstituts in Wien.