Der Verlorene, 1951, Peter Lorre (Fotograf: Fritz Schwennicke)

Deutschland in der Nacht
Eine Filmgeschichte

5. März bis 8. April 2010

 

Der Vorschlag einer „anderen“ deutschen Filmgeschichte, den diese Schau macht, ist notgedrungen experimentell und voller ­Risse: Solche Revisionsversuche haben es an sich, dass sie die Überlieferung eher als Steinbruch betrachten und die Hoffnung auf ein großes Ganzes fahren lassen. Zum einen nagt Deutschland in der Nacht also am „großen deutschen Filmkanon“, der sich trotz zahlreicher Wiederentdeckungen im letzten Jahrzehnt weiter verfestigt hat. Zum anderen fungieren die brüchigen, mehrdeutigen Zeit- und Geschichtsbilder, die sich in vielen Filmen der Retrospektive auftun, auch als bescheidenes Gegengift zur Historienfolklore des aktuellen deutschen Kinos und Fernsehens. Kritisches Erinnern gegen somnambules Mitlaufen; ungesicherte Gesten filmischer Präsenz und Nachdenklichkeit gegen das selbstsichere Alles-und-Nichts-Wissen des Zeitgeschichte-Eventfilms.
 
Film in Deutschland: ein Nocturno, eine Passage durch ­Grau­zonen und unterschied-liche Staaten, die alle Deutschland waren – Weimarer Republik, „Drittes Reich“, BRD, DDR. Ein wohliges Heimat­gefühl will sich nicht einstellen, eher ein Fremdheitsgefühl oder eine ins Obsessive gesteigerte Sehnsucht. Die verschlungenen ­Linien, die in dieser Schau gezogen werden, treffen sich vielleicht in der allgegenwärtigen Unruhe und Unversöhntheit, die auch der Exilant Heinrich Heine in Paris verspürte: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.“
 
Etablierte Meister wie Fritz Lang oder F. W. Murnau und Ikonen des Neuen Deutschen Films wie Fassbinder, Kluge, Herzog und Schroeter haben an dieser Unruhe ebenso Anteil wie jene irrlichternden Figuren, die von jeder Generation neu entdeckt und oft wieder dem Vergessen anheim gegeben werden: Phil Jutzi, Frank Wysbar, Peter Pewas oder Roland Klick. Die aus dem Exil Zurückge­kehrten – Peter Lorre, John Brahm oder Robert Siodmak – ebenso wie der Immigrant Sohrab Shahid Saless und der „Fremdarbeiter“ Želimir Žilnik in den 70er und 80er Jahren. Jene, die radikal „von außen“ kommen in ihrer Anschauung Deutschlands (wie Jean-­Marie Straub und Danièle Huillet) und jene wie Herbert Achternbusch, die ihre Heimat „von innen“ her anstieren, bis man ihr das anmerkt. Die unerlösten Familien (Veit und Thomas Harlan) und jene, die ihnen kontern – durch späte Remakes (Christoph Schlingen­siefs Paraphrase auf Veit Harlans Opfergang) oder durch ­selbst­reflexive Parallelaktionen (Robert Kramers Unser Nazi, beauftragt von Thomas Harlan als Spiegelfilm zu seinem eigenen Wundkanal). Und dazwischen: Außenseiter-Werke von großen Namen, zum Beispiel Helmut Käutners Schwarzer Kies, der einst den Hass der ­gesamten Filmkritik auf sich zog und dessen Zeit erst 40 Jahre ­später gekommen ist.
 
Analog zu Romuald Karmakars Œuvre widmet die Schau dem dokumentarischen oder essayistischen Film ebenso viel Raum wie den Fiktionen. Sie präsentiert zwei Hauptwerke des west- und ostdeutschen Kinos über die Realität des Genozids, Filme, die nach der Papierform „kanonisch“, in Wirklichkeit aber kaum gesehen sind: Eberhard Fechners Der Prozess und Walter Heynowskis und Gerhard Scheumanns Der lachende Mann. Sie hebt kleine Schätze des engagierten Kurzfilms in der Weimarer Republik (von Albrecht Viktor Blum und Ella Bergmann-Michel) und holt Werke ans Tageslicht, die zu ihrer Entstehungszeit aktiv verdrängt oder verboten wurden wie Thomas Heises Volkspolizei und Želimir Žilniks Öffentliche Hinrichtung. Und sie würdigt ein Schlüsseldokument: Unversöhnliche Erinnerungen von Klaus Volkenborn, Johann Feindt und Karl Siebig. Darin werden zwei deutsche Leben parallel erzählt: das eines Bundeswehrgenerals mit Wehrmacht-Vergangenheit und das eines kommunistischen Maurers – beide haben in Spanien gekämpft. Zwei Geschichten, die sich nicht zusammenfügen lassen; was bleibt, ist das Starren in eine Wunde.
 
Bei manchen der ausgewählten Werke existieren unmittelbare Bezüge zu Romuald Karmakar: Peter Lorres Der Verlorene und Fassbinders Händler der vier Jahreszeiten zählen zu seinen Lieblingsfilmen; Siodmaks Nachts, wenn der Teufel kam und Utopia von Sohrab Shahid Saless studierte er gemeinsam mit seinem Team während der Vorarbeiten zu Der Totmacher und Ramses. In anderen Fällen sind die Beziehungen eher spekulativ: Nichts in Karmakars Schaffen verweist auf ein Interesse an Georg Büchner, dennoch mag man in seinen Filmen manchmal an den armen Soldaten Woyzeck denken. Gruppen, Paare – wie die beiden ausgewählten Woyzeck-Filme – finden sich viele in Deutschland in der Nacht, und manchmal ergeben die Assoziationen ein ganzes Netzwerk. Der Vulkan am Ende von Achternbuschs Das letzte Loch führt vielleicht zu Hölderlins Tod des Empedokles in der Bearbeitung durch Straub/Huillet; Hölderlin wiederum zu Christian Geissler, einem großen Vergessenen der deutschsprachigen Literatur und zu dessen Fernsehspiel Wilhelmsburger Freitag, 1964 von Egon Monk inszeniert: ein Tag im Leben eines Paares, mit radikalem Ende – darin ein faszinierendes Spiegelbild zu Karmakars Die Nacht singt ihre Lieder.
 
Das Programm ist dialogisch und fragmentarisch angelegt, ­Monumente werden keine errichtet. Es geht nicht um Antworten, sondern um einen Prozess voller Fragen. Vielleicht macht die Schau erahnbar, welch reiche Filmkultur Deutschland war – gerade in all den Persönlichkeiten, die sich nicht passend machen ließen (oder zu gut passten). Einige Splitter daraus sind hier versammelt.