La Maman et la putain, 1973, Jean Eustache

Gérard Blain
Jean Eustache
Maurice Pialat

4. März bis 4. April 2016

 

So überschätzt die „Neue Welle“ in mancher Hinsicht immer noch ist, so sehr ist das französische Post-Nouvelle-Vague-Kino in ihrem Schatten geblieben. Dieser Vernachlässigung hält die Schau drei herausragende ­Positionen entgegen. Die Arbeiten von Gérard Blain, Jean Eustache und Maurice Pialat sind wesentliche Beispiele einer „Schärfung“ des europäischen Films in den 70er Jahren, die sich auch mit dem Werk von Chantal Akerman, Philippe Garrel, Werner Schroeter oder Rainer Werner Fassbinder verbindet – einer fast schmerzvollen Sensibilität für die Ernüchterungen der Jugend, für das Körperliche und für das Unhaltbare der „schönen“ Gefühle. 

 
Handelt es sich bei Eustache und Pialat um zwei anerkannte ­Figuren dieses Umbruchs, so ist der Schauspieler Gérard Blain als Filmemacher eine internationale Entdeckung. Sein Werk trägt eine ganz eigene Handschrift, pflegt aber subkutan wie kultur- und zeitbedingt ein Naheverhältnis zum ästhetischen Credo von Eustache und Pialat: Alle haben individuelle Formen gefunden, um „dokumentarische“ Klarheit mit einer Härte und Tiefe menschlicher Einsicht zu verbinden, die man auch als instinktive Gegenreaktion zu den stilistischen Spielereien und dem jugendlichen savoir vivre der Vorgängergeneration verstehen kann. Kritiker wie Jonathan Rosenbaum haben für Eustaches berühmtesten Film La Maman et la ­putain (1973) den treffenden Begriff „Sargnagel der Nouvelle Vague“ geprägt: Für das Sujet der urbanen, wortreichen Dreiecksbeziehungsgeschichte geht es da in epischer Form und überwältigender Desillusioniertheit ans Eingemachte, bis zum kritischen Kollaps.

 
Gérard Blain (1930–2000) kam nach einer schwierigen Jugend als Straßenkind während der deutschen Besatzungszeit eher zufällig zum Film. Seine Rollen in Claude Chabrols ersten Werken lancierten ihn kurzfristig, auch international, als eine Art „französischer James Dean“. Doch der Nonkonformist eckte zeitlebens an – sein Filmtitel Le Rebelle ist kein Zufall. Ab 1971 versuchte er sich als Filmemacher zu verwirklichen: Das Debüt Les Amis, eine so unvoreingenommene wie sacht schillernde Studie der Beziehung eines verheirate­ten Mannes zu einem Buben, erntete hymnische Kritiken und Vergleiche mit seinem Idol Robert Bresson, dessen Vorliebe für Laien­schauspieler und entschlackte Erzählungen Blain teilte. François Truffaut schrieb von einer „Offenbarung“. Doch der Publikumserfolg blieb aus, die Folgefilme wurden trotz prominenter ­Festivalteil­­nahmen (Le Pélican in Berlin, das autobiografische Besatzungszeit-Kinderporträt Un enfant dans la foule in Cannes) kaum wahrgenommen. So harrt Blains durchwegs bestechendes, gleichermaßen lichtes wie schonungsloses, strenges wie feinfühliges Regiewerk einer kapitalen Wiederentdeckung.

 
Jean Eustache (1938–1981), wiewohl der jüngste des Trios, war ­bereits in den 1960ern als Nouvelle-Vague-Zögling mit kürzeren ­Filmen in Erscheinung getreten.1968 erfolgte eine entscheidende Neuausrichtung aufs Dokumentarische, und Eustache fand freie, unerwartete Zugänge: La Rosière de Pessac schildert „nur“ die jährliche Rosenköniginnenwahl in seiner Heimatstadt, das materialistische Meisterwerk Le Cochon die Schlachtung und Verarbeitung eines Schweins auf einem Provinzbauernhof – aber beide ­eröffnen ganze Welten. Nach dem globalen Schlager La Maman et la putain geriet seine wunderbare Jugendstudie Mes petites amoureuses zum Kassenflop, woraufhin der grüblerische, depressive Regisseur nur mehr in kleinerem Maßstab experimentierte. 1981 nahm er sich das Leben. Dabei zeigt auch das Spätwerk Eustache als genuinen Innovator: in einem Spiegel-Bild von Raum und Zeit (La Rosière de Pessac 79) oder im hinreißenden Doku/Fiktion-­Diptychon Une sale histoire.

 

Maurice Pialat (1925–2003) kam wie Blain erst spät zur Kinoregie, sein Langfilmdebüt L’Enfance nue (1968) wurde jedoch sofort als Film des Generationswechsels gefeiert. Das Thema, die Kindheit, scheint noch ganz einer „Truffaut-Linie“ verhaftet, aber der insistierende Blick und existenzielle Zugang, das Beharren auf dem Schmerz, verraten bereits das Besondere der Methode Pialat. Auch er galt als schwierig und „düster“, aber anders als Eustache und Blain glückte ihm mit einer Serie bemerkenswerter Filme der Bau eines stabilen Fundaments, weit über die 1970er Jahre hinaus. Mit Erfolgen wie Passe ton bac d’abord, Loulou und der Großtat À nos amours wurde Pialat zum Überlebenden einer tendenziell ­„ver­lorenen“ Generation, ohne dabei die geringsten Kompromisse einzugehen. „Was im Leben möglich ist und was nicht, das ist bei ­Pialat ein offenes Geheimnis, offen wie eine Wunde und das Meer.“ (Bert Rebhandl)

 
Die französische Gesellschaft hingegen schloss die Wunden aus der Post-1968er-Verunsicherung mit einem Kompromiss nach dem anderen. Die kulturelle Blüte, die der Mitterrand-Ära ab 1981 nachgesagt wird, ähnelt aus heutiger Sicht eher einem neu lackierten, durch Staatsmittel aufgeputschten Spektakelbetrieb – mit dem ­„cinéma du look“ (und der bald tonangebenden Pop-und-Plopp-­Ästhetik eines Luc Besson) als ihrem jugendkulturellen Äquivalent. Der Spalt zwischen Einzelgängern wie Maurice Pialat und dem ­neuen „Publi­kumskino“ wurde rasch größer. Die anderthalb ­De­kaden vor ­diesem Stimmungsumschwung, ihr Innenleben und ihre Gefühlswelten, sind in den Filmen von Blain, Eustache und Pialat auf den Punkt gebracht: Porträt einer Epoche der Unruhe.

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