Letjat zuravli (Wenn die Kraniche ziehen), 1957, Michail Kalatozov

Tauwetter
Aufbrüche im sowjetischen Kino 1957-67

8. März bis 11. April 2012
 
Das sowjetische Tauwetter-Kino ist eine Schlüssel­epoche der internationalen Filmgeschichte – im Grunde gibt es nur eine weitere Ära, die sich mit ihr an Relevanz vergleichen ließe: das New-­Hollywood-Kino.
  
Ottepel', also Tauwetter heißt eine 1954 publizierte Erzählung von Ilja Ehrenburg. Ihr Erscheinen wurde als Zeichen kommender Veränderungen in der sowjetischen Politik gedeutet, denn Ehrenburgs UdSSR hatte kaum noch etwas gemein mit jenem Land, das man aus den offiziell gerühmten Kunstwerken der zwei vorhergehenden Dekaden kannte. Tauwetter wurde zur ersten weithin rezipierten Abrechnung mit dem Stalinismus – ein Signalwerk. Spätestens Nikita Chruschtschows sogenannte Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPDSU im Februar 1956 machte klar, dass die UdSSR ernsthaft eine Art Neuanfang wagen wollte. So begann eine Zeit der Um- und Aufbrüche, die man schon bald nach Ehrenburgs literaturpolitischer Wasserscheide benannte.
 
Streng genommen wird nur eine relativ kurze Phase der Sowjet­union als „Tauwetter“ bezeichnet – die mittleren 1950er Jahre. Umgangssprachlich steht der Begriff heute aber für die rund eineinhalb Dekaden zwischen Stalins Tod 1953 und jenem Moment um 1967/68, als die Ultrakonservativen unter Leonid Breschnew die Staatsmacht ganz unter ihre Kontrolle brachten und so auch die letzten ­Liberalisierungskeime ersticken konnten – zumindest bis zur Ära von Perestrojka und Glasnost 20 Jahre später.
 
Im Kino zeigte sich das Tauwetter keineswegs nur am Aufkommen einer neuen Generation. Im Gegenteil: Schon kurz vor Stalins Tod hatte ein düsterer Kriegsheimkehrerfilm des „Alten Meisters“ Vsevolod Pudovkin die klimatischen Veränderungen vorhergesehen. Worin sich auch schon eine filmhistorische Eigenheit des Tauwetters andeutet: Nie zuvor und nie danach arbeiteten in einer Kinematografie mehrere Generationen gemeinsam an einer grundsätzlichen Erneuerung ihres Filmschaffens – das gab es selbst im multigenerationellen New Hollywood nicht.
 
Zu den zentralen Tauwetter-Gestaltern gehörten: 1. Michail Romm (9 Tage eines Jahres, Der gewöhnliche Faschismus), Michail Kalato­zov (Wenn die Kraniche ziehen, Der Brief, der nie ankam) und ­Fridrich Ėrmler (Vor dem Gericht der Geschichte) – drei etablierte Meister, die noch in der Stummfilmzeit debütiert hatten; 2. Marlen Chuciev (Zastava Il'iča / Ich bin zwanzig Jahre alt), Grigorij Čuchraj (Die Ballade vom Soldaten), Aleksandr Alov & Vladimir Naumov ­(Pavel Korčagin), Michail Švejcer (Zeit, voran!) und Vladimir Ven­gerov (Die Arbeitersiedlung) – allesamt Kriegsveteranen, die beim deutschen Überfall 1941 ihr Filmstudium entweder gerade beendet hatten oder eben erst beginnen wollten, und die nach 1945 lange keine Chance erhielten; 3. Andrej Tarkovskij (Iwans Kindheit, Andrej Rubljow), Larisa Šepit'ko (Flügel) und Andrej Končalovskij (Asjas Glück) – sie hatten als Jugendliche den Krieg überlebt, waren Schüler/ innen der Erstgenannten und oft genug Schutzbefohlene der zweiten Generation.
 
Während heute vor allem die Jungen erinnert werden, waren es die Alten, deren politisches Geschick und künstlerisches Genie das Tauwetter überhaupt möglich machten: Der König des Kolchosen-Musicals, Ivan Pyr'ev, schuf in wenigen Jahren als Direktor von Mosfilm jene relativen Freiräume, in denen die Jüngeren experimentieren konnten; Michail Romm unterrichtete an der Filmakademie VGIK und lancierte von dort aus seine Meisterschüler; Fridrich Ėrmler und Iosif Chejfic deklinierten bei Lenfilm – entlang der Linien Ehren­burgs – die Idee des Realismus neu durch und machten dabei ein skeptisch hoffnungsvolles Land sichtbar: grau in grau, voller angeknackster Helden und unerfüllter Sehnsüchte. Michail Kalatozov schließlich wurde in seiner Zusammenarbeit mit dem vielleicht größten Kameramann aller Zeiten, Sergej Urusevskij, zum ­Weg­bereiter eines neuen, visuell atemberaubenden Erzählstils, der oft bis an die Grenzen der reinen Abstraktion ging und dessen Epigonen-Reihe bis hin zu Terrence Malick reicht. Daran schlossen die Jüngeren nahtlos an, wobei ihre Werke oft eine Heiterkeit und Sinnen­freude kennzeichnete, die den Älteren fremd blieb. Bemerkenswert ist dabei, dass die Veteranen mehr an einem realistischen ­Erzählen interessiert waren, die Nachgeborenen hingegen eher an der formalen Verdichtung und Abstraktion.
 
Unangenehm war den Machthabern beides, und zwar sehr bald. Obwohl das Tauwetter weit weniger eine Opfer-Geschichte ist, als man leichthin vermuten würde, kam es doch immer wieder zu ­kleineren und größeren Problemen, was meist bedeutete: Filme mussten umgeschnitten, teilweise sogar neu gedreht werden. Der berühmteste Fall war Marlen Chucievs zentrales Werk Zastava Il'iča, das Monument für seine verlassene und doch nie verlorene Generation. 1966 begann allerdings eine Periode offizieller Repressalien: Alovs und Naumovs kernig-finstere Dostojewski-Adaption Böse Anekdote wanderte noch „einfach so“ ins Regal, ohne jegliche ­offizielle Zensurmaßnahme (man hatte den Film gleichsam „vergessen“), im Jahr darauf aber hagelte es schon Verbote von höchster Stelle. Man schrieb den 50. Jahrestag der Oktoberrevolution.
 
Vom staatlichen Wüten in den Jahren 1967-69 sollte sich das sowjetische Kino nie wieder erholen.
 
Die Schau wurde von Olaf Möller kuratiert, der auch Einführungen zu einigen Filmen halten wird. Die erste umfassende Darstellung des Tauwetter-Kinos in Österreich konnte nur dank der Unterstützung von Vladimir Dmitriev und Oleg Bočkov (Gosfilmofond), des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten und des Österreichischen Kulturforums in Moskau realisiert werden.