Barbara, 2012, Christian Petzold (© Christian Schulz)

Christian Petzold
Gesamtwerk und Carte blanche

7. April bis 4. Mai 2016
 
Als das Filmmuseum Christian Petzold (*1960) eine erste Retrospektive widmete, war er gerade mit seinem Kinodebüt Die innere Sicherheit (2000) „vom Geheimtipp des deutschen Gegenwartskinos zu einem seiner wichtigsten Vertreter avanciert“ – eine Einschätzung, die seither mehrfach bestätigt wurde. Preisgekrönte Arbeiten wie Gespenster, Yella und Jerichow rückten ihn immer stärker ins internationale Rampenlicht, während er seinen unverwechselbaren Stil perfektionierte.
 
Petzold arbeitet an Phantombildern der deutschen Gegenwart, gespeist aus einer cinephilen Passion, die nicht am bloßen Zitat, sondern am (Ein-)Gemachten des Kinos interessiert ist. Als Referenzgröße beschwört er gern Claude Chabrol, vor allem, was die Rolle der découpage betrifft: Die filmische Erzählung entsteht nicht so sehr am Schreib- oder Schneidetisch, sondern in der bewussten und präzisen Wahl von Blickpunkten, Bildgrößen, Kamerabewegungen; dort, wo die Kinobegriffe selbst eine Engführung von Sujet, Figuren und Welthaltigkeit erlauben. Zwischen den Trugbildern eines „dokumentarischen“ Naturalismus und einer demonstrativ ausgeschilderten „Message“ setzt Petzold auf eine entschlackte Idee von Künstlichkeit. Nicht schöne Oberflächen oder auffällige Erzählexperimente sind das Ziel, sondern die filmische Konkretisierung dessen, was im jeweiligen Stoff – und in der Gesellschaft – latent vorhanden ist: „Das Kino entdeckt diese Dinge ja nicht, sondern es kennt sich nur wahnsinnig gut aus im Bereich der Träume und der Verdrängung. Hier findet das kollektive Unbewusste Bilder und Töne, hier geht es um Menschen, die an den Verhältnissen zerbrechen und die sich dagegen zur Wehr setzen.“

 
Zuletzt hat Petzold zwischen erfolgreichen TV-Ausflügen die Beforschung des Unbewussten um historische Sujets erweitert: Die DDR-Geschichte Barbara und der Nachkriegs-Psychothriller Phoenix wurden weltweit seine größten Publikums- und Kritikererfolge. Nur in Deutschland stieß Phoenix auf wenig Gegenliebe – wohl ein Beleg für die Ausnahmeposition, die sich Petzold (in fruchtbarer Zusammenarbeit mit seinem 2014 verstorbenen Lehrer und Dramaturgen Harun Farocki) erkämpft hat: Als wäre sein Kino zu filigran, zu vielschichtig, zu intelligent für „Aufreger“-Debatten im Feuilleton, das sich in Oberflächlichkeiten verbeißt, statt den Reichtum dessen zu würdigen, was durch bloße Andeutung wirkt.

 
Seit seinem Hochschulabschlussfilm, dem Road Movie Pilotinnen (1995), hat Petzold so gründlich wie gelassen deutsche Wirklichkeit mit mythischen Entwürfen fusioniert, insbesondere mit jenen des heißgeliebten Krimi-Genres (zum Beispiel wenn er The Postman Always Rings Twice zu Jerichow umschreibt – rund um die Figur eines Heimkehrers aus dem Afghanistankrieg). Auch Geistergeschichten sind ihm nahe: Die RAF-Vergangenheit spukt durch Die innere Sicherheit, die ökonomische „Einverleibung“ des deutschen Ostens durch Yella, die Gespensterwelt des Holocaust durch Phoenix – als Edelzombie-Variante von Orpheus und Eurydike mit Schlaglichtern von Fassbinder-Melodram, Franju-Horror und allumfassender Noir-Ambivalenz. Nicht zuletzt beweist Phoenix sehr konsequent, dass Petzold-Filme erschütternde Liebesfilme sind: noch ein Kino-Kernmythos.

 
Die aus 21 Werken bestehende Carte blanche vertieft dementsprechend Christian Petzolds Wahlverwandtschaften – im erinnernden Umgang mit dem Kino, das für ihn ein „Proust’sches Medium“ ist: „Manche glauben, dass Reflexion die Frische zerstört, aber ich denke, dass sie zu einer anderen Form des Ungekünstelten führt.“ Es sind Filme, wie er sie gemeinsam mit Crew und Schauspielern zur Vorbereitung sichtet. „Kino ist ein Kollektiv, man muss sich ja verständigen, das ist wie bei einem Bankraub.“ Erbeutet werden dabei auch neue Perspektiven: „Der Film wird ein anderer, wenn man ihn mit zwei verschiedenen Darstellern schaut.“ 

 
Das Verhältnis zwischen Petzolds eigenen Filmen und denen, die er ausgewählt hat, ist nur zum Teil thematisch begründet. Szabó Istváns Bizalom etwa korrespondiert mit Phoenix durch sein Weltkriegssujet, aber vor allem im Porträt einer Paarbeziehung, in der „Spiel zu Gefühl“ wird. An der Noir-Perle Phantom Lady faszinieren Petzold die „schwachen Männer“, aber auch der Irrwitz der Plot-Komplikationen. Eine starke Frau wie Petzolds Beischlafdiebin findet ihr Echo in einer Nebenfigur von Don Siegels Gangster-Geniestreich Charley Varrick. Auch die Bewegungsformen des Kinos bieten Anknüpfungspunkte: Wie man langes Gehen filmt (in Gespenster und in La Fille seule) oder Bilder für „herumfahrende Gespenster“ findet (in Die innere Sicherheit und Near Dark). Wie die Titelheldin von Yella sich verkauft, haben es die Titelfiguren von American Gigolo und Pretty Woman getan, unter jeweils spezifischen historischen und sozialen Bedingungen.

 
So vermag das „Proust’sche“ Kino sich und uns an seine und unsere Zeiten bzw. Orte zu erinnern. Christian Petzolds Filme suchen diese Kraft auch in der Bilderflut des 21. Jahrhunderts: Sie erzählen eine, seine wahre Geschichte Deutschlands und was es heißt, darin zu leben.

 
Im Rahmen seines Wien-Aufenthalts wird Christian Petzold seine jüngste Arbeit, den Fernsehfilm "Kreise", zum ersten Mal im Kino präsentieren und für zahlreiche Einführungen und Publikumsgespräche zur Verfügung stehen. Darüber hinaus wird er eine Masterclass (in Kooperation mit dem Drehbuchforum Wien) und eine Lehrveranstaltung am TFM der Universität Wien halten, gemeinsam mit Ralph Eue und, als Gast, Linda Söffker (Berlinale/Perspektive Deutsches Kino).

 

Für die Masterclass mit Christian Petzold am 11. April gibt es ab 22. März Karten im Vorverkauf, jedoch keine telefonische oder Online-Reservierung.

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