Der Verlorene, 1951, Peter Lorre (Fotograf: Fritz Schwennicke)

Peter Lorre
Ein Fremder im Paradies

27. Mai bis 20. Juni 2004
 
Eine Veranstaltung in Kooperation mit den Wiener Festwochen
 
Peter Lorre, im Juni 1904 als Ladislav Loewenstein in Rózsahegy geboren, 1964 in Hollywood verstorben, gilt als Jahrhundertschauspieler.
 
Dieser abgenutzte Begriff ergibt bei ihm einen neuen, reicheren, vielfältigen Sinn: Nicht der Superstar ist hier gemeint, nicht der überirdische Publikumsliebling, der alle Zeiten und Brüche kittet, und auch nicht das Verwandlungsgenie (obwohl Lorre diesbezüglich in Frage käme) – sondern einer, der mit den künstlerischen, politischen und existenziellen Erfahrungen seiner Zeit in engstem und kreativem Kontakt stand. Lorre ist der seltene Fall eines Schauspielers, der zum auteur, zum Schöpfer einer spezifischen Kino-Welt wurde. Nicht nur, weil er auch als Regisseur einen herausragenden Film schuf, sondern weil er mit seinem Spiel eine eigenständige Stimme etablierte, über die unterschiedlichsten Filme und Rollen hinweg.
 
Seiner Arbeit und seiner Biografie ist die Erfahrung von Fremdheit und Exil so deutlich eingeschrieben, dass keine monumentale, entrückte Meisterschaft vor uns liegt, sondern eine vielfach gebrochene Existenz – und eine zutiefst moderne Ästhetik der Verlorengegangenheit.
 
„Er ist derjenige, der sich in jedem von uns zu Wort meldet und uns bewusst macht, dass wir selber aus jedem Zusammenhang gerissen sind, degradiert, ja degradiert schon, indem wir überhaupt da sind. In diesem Sinn hat Lorre immer Degradierte gespielt, aber solche, von denen man nur ahnt, was sie einmal gewesen sein könnten.“ (Elfriede Jelinek)
 
Zum 100. Geburtstag Peter Lorres präsentiert das Filmmuseum die weltweit bislang umfassendste Reflexion und Retrospektive seiner Arbeiten. Darunter befinden sich mehrere Hauptwerke der Filmgeschichte – Fritz Langs M (1931); Produktionen mit Hitchcock, Sternberg, Pabst und John Huston; Komödien, Gangster- und Anti-Nazi-Filme im Exil (z.B. Arsenic and Old Lace, The Maltese Falcon, Casablanca); seine einzige Regiearbeit Der Verlorene (1951) und sein Schwanengesang in The Raven (1963) nach Edgar Allan Poe.
 
Gleichzeitig bietet die Schau viele bedeutende Wiederentdeckungen und Raritäten, darunter seltene Filme von Michael Curtiz und Frank Borzage sowie Robert Floreys Meisterwerk The Face Behind the Mask (1941), der wie kein anderer Film die Traurigkeit und Gebrochenheit des realen Peter Lorre in eine Fiktion übersetzt.
 
In der rasanten Gaunerkomödie I Was an Adventuress (1940) ist Lorre an der Seite seines Wiener Freundes Erich von Stroheim zu sehen. Und auch unter den deutschsprachigen Filmen der Schau findet sich eine kleine filmhistorische Sensation: Bislang galt als gesichert, dass Fritz Lang mit M Lorre fürs Kino entdeckte. Lorre hatte jedoch schon zwei Jahre zuvor sein eigentliches Leinwanddebüt gegeben, als Zahnarztpatient in dem österreichischen Film Die verschwundene Frau (1929). Der Film konnte in Brüssel aufgefunden und restauriert werden und erlebt nun seine Wiener Wiederaufführung nach 75 Jahren im Filmmuseum. Einige Fernseharbeiten Lorres sowie der brillante Essayfilm Peter Lorre – Das doppelte Gesicht von Harun Farocki und Felix Hofmann runden die Retrospektive ab.
 
Das Filmmuseum bringt im Rahmen dieses Projekts auch ein neues Buch über Lorres Leben und Werk heraus: Peter Lorre – Ein Fremder im Paradies (Band 3 in der gemeinsamen Reihe KINO des Zsolnay-Verlags und des Filmmuseums).

Das Buch – herausgegeben von Michael Omasta, Brigitte Mayr und Elisabeth Streit – enthält Originalbeiträge von Autoren wie Ilse Aichinger, Elfriede Jelinek, Peter Nau, Enno Patalas, Christian Petzold oder Robert Schindel, historische Texte von Bertolt Brecht, Graham Greene und Lorre selbst, bedeutende neue Forschungsergebnisse und eine Vielzahl von (teilweise unpublizierten) Fotos und Illustrationen.
 
Die Stationen, zwischen denen Lorres künstlerische Biografie aufgespannt ist, ergeben eine faszinierende Kulturgeschichte. Im Wien der frühen 20er Jahre wird er zum Stegreif-Schauspieler (und pflegt Kontakte mit Karl Kraus, Lotte Lenya und Alfred Adler). Im Theater und Kino der Weimarer Republik ist er ein Star und Bertolt Brechts bevorzugter Darsteller. 1933 versucht Goebbels, den Juden Lorre fürs NS-Kino zu gewinnen; Lorres Antwort-Telegramm nimmt Bezug auf seine berühmte Rolle in M: „Für zwei Mörder wie Hitler und mich ist in Deutschland kein Platz.“ Daraufhin wird er in dem antisemitischen Hetzfilm Der ewige Jude als prominentes Feindbild hervorgestrichen. Im Hollywood-Exil (wo Lorre häufig Nazis spielen muss) wird die Freundschaft mit Brecht immer enger – und Lorre als Kommunist verdächtigt.
 
Nach dem Krieg schreibt Brecht ein Gedicht: An den Schauspieler P.L. im Exil – „Höre, wir rufen dich zurück. Verjagter / Jetzt sollst Du wiederkommen. Aus dem Land / Da einst Milch und Honig geflossen ist / Bist Du verjagt worden. Zurückgerufen / Wirst Du in das Land, das zerstört ist. / Und nichts anderes mehr / Können wir Dir bieten, als dass du gebraucht wirst. / Arm oder reich / Gesund oder krank / Vergiss alles / Und komm.“
 
Lorre kommt 1949. Als Regisseur und Hauptdarsteller dreht er in Deutschland den Film Der Verlorene. Ein Erfolg bei der Kritik, ein Flop beim Publikum, eine Erzählung über Schuld und Sühne – und über die Verbindungen zwischen Nazi- und Nachkriegszeit. Der Verlorene ist der größte, schärfste Film deutscher Sprache in den Jahren des Schweigens. Aber der Misserfolg führt Lorre nach Hollywood zurück.
 
Das amerikanische Kino verändert sich, und Peter Lorre wird mehr und mehr als Komiker besetzt – als fast schon postmodernes Zitat seiner selbst. In seinen letzten Lebensjahren kehrt er zu einer Art „Stegreiftheater“ zurück, wie er es in Wien um 1922 gelernt hat: Übergewichtig und abgeklärt spielt er gemeinsam mit Boris Karloff und Vincent Price köstliche Horror-Nummern für Roger Corman.
 
Mit diesen Filmen beginnt auch das klassische Genrekino eine Art zweites Leben: die Geister der Vergangenheit spuken weiter, im Imaginären, als Erinnerung an den realen Terror und den ernstgemeinten Suspense – als Objekte von Songtexten, Illustrationen, Comics und diversen Fankulturen. Von diesen Wiedergängern der historischen und kinematographischen Ära zwischen 1925 und 1960 ist Peter Lorre bis heute einer der meistzitierten. Der Vertriebene, der sich nicht vertreiben lässt.
 
Die Eröffnung der Schau und die Präsentation des neues Buches finden am 27. Mai um 19.00 bei freiem Eintritt statt (Zählkarten an der Kasse). Vorgeführt werden rare Beispiele mit Peter Lorre als Film- und TV-Darsteller, als Sänger und aus seinen literarischen Lesungen im Radio.
 
Von 2. bis 4. Juni veranstalten SYNEMA und das Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien das Symposium „Peter Lorre, Schau~Spieler“. Der Vortrag von Christoph Fuchs am 2. Juni im Filmmuseum bildet dazu den Auftakt. Die weiteren Vorträge finden im Theatermuseum statt. Vier Filmeinführungen im Filmmuseum ergänzen das Symposium. Nähere Informationen bei SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien (Tel. +43/1/523 37 97 oder synema@chello.at).
Zusätzliche Materialien