Guckkasten #4

Wer ist dieser Mann?

21. März 2023 bis 11. März 2024
 
Abseits der Pose scheint er nicht zu existieren. Sein Konterfei bleibt stets Maske, zu künstlerischen wie kommerziellen Zwecken zu Markte getragene Haut. Sich mit ihm zu beschäftigen, impliziert, ihn zu hinterfragen. Erich Oswald Hans Carl Maria von Stroheim, Graf von Nordenwall, hieß eigentlich Erich Oswald Stroheim und kreierte seine Biografie selbst als Vorlage für das, was er auf der Leinwand personifizierte. Es wirkt wie die Vorwegnahme eines Auteurs und gleichzeitig dessen Dekonstruktion. Der Tod des Autors, wie ihn Roland Barthes diagnostiziert, ist bei Stroheim ebenfalls Teil des Systems, da es um die Kreation einer fiktiven Person geht. Die zentrale Frage geht in die Richtung von Michel Foucaults Text Was ist ein Autor?, in Stroheims Fall präziser formuliert: Wer ist der Autor?

Text: Paolo Caneppele und Günter Krenn Gestaltung: Gabi Adébisi-Schuster
 

"Ich habe immer die Wahrheit gesagt, wie ich sie sah. Das war genehm oder auch nicht genehm,
aber jedenfalls war es die Wahrheit, wie ich sie sah."

Erich von Stroheim

 

Von Stroheim, Erich. Real name, Count Erich Oswald Hans Carl Maria Stroheim von Nordenwall. B. Vienna, Austria, Sept. 22, 1885. Brown eyes. Ht. 5 it. 7 in. Ed. Austrian Military Academy. At one time an officer in the army of Franz Josef of Austria. Went to New York, where he worked alternately as dishwasher, ostler, gardener, newspaper man and magazine writer. Screen debut as the Pharisee in Griffith's Intolerance (U.A., 1916). Learnt his early cinema from Griffith.
 

Clarence Winchester (Hg.), The World Film Encyclopedia. A Universal Screen Guide, 1933



Wer ist dieser Mann? Was für ein geheimnisvolles Wesen? Kein Schnitzler-Leutnant. Kein Offizier. Kein "von". Überhaupt keiner "von oben", der an Standeskollegen Vergeltung übte. Sondern im Gegenteil: einer von unten, der nicht hinauf durfte; ein kleiner Österreicher, der in seiner Heimat nicht groß werden durfte und sie zur Rache dafür unvergänglich machte! [...] Stroheims ganzes Lebenswerk ist so ein Traum, von jemandem nachgeträumt, der zur Wirklichkeit nicht zugelassen wurde; ja, nicht einmal miterleben durfte, wie die anderen aus ihrem Traum erwachten.

Anton Kuh, "Der Traum eines österreichischen Reservisten", 1929
Er heißt einfach "Von", und wer "Von" ist, weiß heute jedes Hollywooder Kind. Erich von Stroheim, das war zu umständlich. Sie rissen das "Von" aus seinem Namen und nennen ihn mit besonderer Vorliebe nur mehr so – gleichsam, als wollten sie auf dem Rummelplatz der Parvenüs mit den drei adligen Buchstaben protzen. Dabei sprechen sie dieses "Von" wie "one" – eins – aus. Und wenn man, Greenhorn noch in Hollywood, etwa fragt: warum nennt ihr Stroheim "one"? – dann bekommt man zur Antwort: weil jede Firma mit ihm nur Film drehen kann, nachher ist sie nämlich schon pleite.
 
Billy Wilder, "Stroheim, der Mann, den man gerne hasst", 1929


Wenn Balzac und Maupassant sich ein "de" zulegen durften, ohne daß es ihrem Ruhm geschadet hätte, warum dann nicht Erich Oswald Stroheim, Sohn des Kaufmanns (und Herstellers von Filzhüten) Benno Stroheim aus Gleiwitz und Johanna, geborene Bondy aus Prag, dessen Geburt und Beschneidung im Matrikelamt der israelitischen Kultusgemeinde in Wien am 29. September 1885 eingetragen ist? [...] André Malraux' Unterscheidung zwischen dem "Schauspieler", der in viele Rollen schlüpft, und dem "Star, auf den viele Szenarien konvergieren", macht aus dem Stroheim seiner Filme einen "Star", der zwar später "Schauspieler" wurde, jedoch niemals so, daß der Zuseher bei irgend einer Rolle vergessen konnte: hier kommt Stroheim.
 
François Bondy, Zwischen zwei Legenden, 1967
Forgotten by all but a few close friends, by the time of his death von Stroheim lay paralyzed in his bed, forcibly immobilized [...] In this state, he received the Legion of Honor shortly before he died on May 12, 1957. He had worn many decorations in Hollywood, all from the prop department, all awarded by himself. The medals were fake, but von Stroheim convinced us they were real. Now that the final act was finished, his audience awarded him a decoration of his own, a real one. He must have enjoyed the irony.
 
Richard Koszarski, VON. The Life & Films of Erich von Stroheim, 1983
Despite his artistic sincerity, Stroheim was a fibber incarnate. His autobiography, as reported in interviews and told to biographers, reveals that this supreme realist of the screen was personally unencumbered by facts. Truth rarely interfered with many of his recollections, even in his last years, when it no longer mattered – or perhaps mattered even more. Throughout his career, Stroheim offered several versions of his past.
 
Arthur Lening, Stroheim, 2000



Es gibt ohne Erinnerung kein Leben, und als erstes, wenn sie sich selbst zerstören, zerstören die Menschen ihr Gedächtnis. Erich von Stroheim ist ein Genie des Gedächtnisses gewesen und ein Genie, den Kinematographen als ein Gedächtnis für alle zu erkennen und zu nutzen. Alles ist vor der Kamera und durch sie.

Helmut Färber, "Erich von Stroheim et Maurepas", 1994
Nach jahrelangen Vorgesprächen zwischen Direktor Michael Loebenstein und dem amerikanischen Filmhistoriker Richard Koszarski konnte das Filmmuseum im Frühjahr 2022 dessen bedeutende Sammlung über Erich von Stroheim erwerben. Für die Stroheim-Forschung ergänzt sie die großen Teilnachlässe, die in Los Angeles (Margaret Herrick Library) und Paris (Cinémathèque française) überliefert sind.

Die Richard Koszarski – Erich von Stroheim Collection wird von den Mitarbeiter*innen des Österreichischen Filmmuseums im Laufe der kommenden Jahre bearbeitet und erschlossen. Unser Ziel ist es, diese Ende 2024 als digital zugängliche Studiensammlung online der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Darüber hinaus planen wir, zur Erschließung der Sammlung und für den Ankauf weiterer (mittlerweile neu restaurierter) Filme Stroheims ein Patenschaftsprojekt ins Leben zu rufen.
 

Ausstellungsansicht

 
Guckkasten #4 (Foto: ÖFM / © Eszter Kondor)
Guckkasten #4 (Foto: ÖFM / © Eszter Kondor)

 
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