Cronaca familiare, 1962, Valerio Zurlini (Foto: Cinémathèque suisse)

Valerio Zurlini

10. bis 30. Jänner 2013

Das Schaffen von Valerio Zurlini (1926–82) nimmt sich aus wie ein entlegener Archipel vor dem Festland des italienischen Nachkriegsfilms – eine verstreute Gruppe von Werken, die eine Welt für sich bilden, dabei aber durchaus im Kontakt mit den Moden und Tendenzen ihrer Zeit stehen. Zurlini war ein Einzelgänger. Sein großes Thema: die Einsamkeit, Verlassenheit. Dabei dachte er in Dimensionen, die oft die Kapazität und den Mut des ­italienischen Kinos (selbst in dessen mächtigster Periode) überstiegen. Von seinem ­unproduzier­baren Opus magnum, dem Dreiteiler „Il paradiso all'ombra delle spade“, dessen erste Skizzen aus den frühen 1960ern stammen, konnte er gerade einmal den Schlussteil des geplanten dritten Films realisieren: La prima notte di quiete (1972). „Il paradiso ...“ war der große ­Themen- und Bilderkreis, zu dem Zurlini nach seinem Durchbruch mit Estate violenta (1959) wiederholt zurückkehrte: seine Inspira­tionsquelle. So gesehen ist Zurlinis Œuvre nicht nur gewaltig, sondern auch unvollendet.
 
Ein Hauptgrund für die geringe Zahl seiner Filme liegt in Zurlinis Kompromisslosigkeit und Akribie – er verlangte für seine Projekte, was sie brauchten. Das war nicht notwendigerweise Geld, sondern eher Zeit. Seine „Passion Lumumba unter den Söldnern“, Seduto alla sua destra (1968), war z. B. als Episode des Omnibusfilms Amore e rabbia geplant, entwickelte sich dann aber zu einem abendfüllenden Werk – ohne dass er viel mehr Budget verbrauchte, als für dreißig Minuten vorgesehen war. Die Geschichte wirkt beim Lesen, als ließe sie sich gut in der Kürze erzählen. Wenn man jedoch den fertigen Film sieht, spürt man, dass alles, was ihn ausmacht, in einem Drehbuch nicht beschreibbar ist – die Dauer der Bewegungen, die Gesten der Darsteller, der langsam rollende Rhythmus des Ausharrens zum Tode. Daraus folgt nicht unbedingt, dass die Filme lang wurden – Le soldatesse (1965) etwa kürzte Zurlini selbst von geplanten drei auf zwei Stunden herunter, nahm viel moralisches Geplänkel und narrative Übergänge heraus, um so das Gewicht einzelner Momente zu betonen. Die darin vergehenden Minuten erscheinen dann so lang wie Menschenleben.
 
Zurlini hatte schon früh gelernt, dass Zeit ein kostbares und fragiles Gut ist: 1943, gleich nach der Schule, meldete er sich beim Corpo Italiano di Liberazione. Er war 19, als der Frieden ausgerufen wurde. Zuerst zog es ihn zum Theater, z.B. als Assistent am Piccolo Teatro in Mailand. 1949 wandte er sich in Rom dem Kino zu und begann noch im gleichen Jahr mit dem ersten von rund zehn Kurzfilmen, die rasch seinen Ruf etablierten. Die erste Langfilmregie, Le ragazze di San Frediano (1954), war eine eigenständig-herbe Übung im komö­diantischen Fach des neorealismo rosa. Als sein wahres Debüt ­betrachtete Zurlini jedoch seinen Zweitling, Estate violenta, der in ­vieler Hinsicht ein Schlüsselfilm über die eigene Jugend ist. Zurlini etablierte damit auch seine großen Themen: die Erinnerung, das Warten, den Krieg. Sein für lange Zeit größter Erfolg wurde La ­ragazza con la valigia (1961), ein Film ganz im Geiste des Augenblicks – des Driftens und Jungseins am Höhepunkt des Italo-Boom. Die offiziellen Höchstweihen erhielt er kurz darauf mit Cronaca ­familiare (1962), der sich den Goldenen Löwen in Venedig mit ­Andrej Tarkovskijs Iwans Kindheit teilte.
 
Zurlini war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt. Wer hätte damals geglaubt, dass er nur noch vier weitere Spielfilme machen würde, dass die verbleibenden zwei Dekaden vor allem aus Absagen bestehen sollten? Dass er aus Geldgründen Gelegenheitsarbeiten beim Fernsehen annehmen, wieder zum Theater zurückkehren, Synchronregie führen würde? Sein letztes Werk geriet ihm zur Summe seines Schaffens, so als hätte er geahnt, wie wenig Zeit ihm noch blieb: Il deserto dei Tartari (1976). Hier wird sich am Ende das Ausharren der Soldaten an den Grenzen der bekannten Welt gelohnt haben, denn es passiert endlich, woran niemand mehr zu glauben wagte. So erhalten mit einem Mal all die Leben, die im ­stillen Dienen enttäuscht vergangen waren, einen Sinn.
 
Die Retrospektive der Werke von Valerio Zurlini und Antonio Pietrangeli wird unterstützt von Cinecittà Luce und dem Italienischen Kulturinstitut in Wien.
Zusätzliche Materialien