Vittorio De Sica in

Vittorio De Sica

9. Jänner bis 12. Februar 2015
 
Vor sechzig Jahren war Vittorio De Sica einer der berühmtesten und geachtetsten Filmemacher der Welt – und eine Art Synonym für den globalen Erfolg des italienischen Neorealismus. 1948 wurde Sciuscià bei den 20. Academy Awards mit einem Sonder-Oscar bedacht, zwei Jahre später folgte ein weiterer für Ladri di biciclette – der Beginn jener Kategorie, die heute Best Foreign Language Film heißt. 1951 gewann er mit Miracolo a Milano den Grand Prix in Cannes und 1952, bei der ersten Sight & Sound-Umfrage nach den zehn besten Filmen aller Zeiten, belegte Ladri di biciclette den ersten Platz. Gleichzeitig galt De Sica als politisch äußerst brisant – Giulio Andreottis Wort von der Wäsche, die man nicht in der Öffentlichkeit waschen solle, bezog sich auf seine Filme; deren hohe Reputation im Ausland war den italienischen Konservativen gar nicht genehm.
 
Peter von Bagh pries seinen Studenten Sciuscià als den kommunistischsten Film überhaupt an. Denn man spürt hier, wie später auch in L’oro di Napoli oder Il tetto, dass der 1901 in arme Verhältnisse geborene De Sica wusste, worüber er sprach: dass ihm klar war, wie viel Solidarität es für wie viele Gürtelhiebe gibt, wie viel Brot es braucht, um einen Hungrigen zum Verräter an seinen Nächsten und damit seiner Klasse zu machen.
 
Heute gilt De Sica als eine Art filmhistorischer Überhang: als Größe einer Epoche, die man nun „überwunden“ hat. Sein Humanismus ist mit dem allmählichen Verschwinden des Kinos als moralische bzw. soziale Instanz offenbar suspekt geworden, so wie dies auch bei anderen geliebten auteurs der ersten Nachkriegsdekade der Fall war (z.B. René Clair und Robert Flaherty, zwei weitere Regisseure, die auf der ersten Sight & Sound-Liste vertreten waren). Es gibt bei De Sica etwas Lichtes, Dezidiertes, Unbedingtes, das sich nicht so leicht in Einklang bringen lässt mit unserer nebligen, vom Modernismus geprägten und Ambivalenz-versessenen Vorstellung von Wirklichkeit bzw. ihrer Repräsentation. De Sica zu lieben heißt, sich von einem Film auch etwas sagen zu lassen – etwas, das helfen könnte, die Dinge zu verändern.
 
De Sica war deshalb immer ein im nobelsten Sinne populärer Filmemacher. Im Gegensatz etwa zu Visconti oder Rossellini hatte er stets auch etwas von einem Regieprofi, einem „Mann für alle Fälle“, der die Genres und Moden zu nehmen wusste, wie sie kamen. Das stand ihm gut zu Gesicht und macht heute viel von seinem Reiz aus. Anders gesagt: De Sica ist in vielen seiner Werke aus den 1960er Jahren, an denen man gemeinhin seinen Niedergang festmacht, ebenso großartig wie in den Jahrzehnten davor – wegen des fabelhaft tief empfundenen Melos von La ciociara (1960) und der geschliffenen Eleganz seines Episodenfilm-Meisterwerks Ieri oggi domani (1963, noch ein Oscar); wegen des hysterischen Ingrimms von Il giudizio universale (1961) und des bösen Sarkasmus von Il boom (1963); wegen seines schillernden, mit der Homophilie wild flirtenden und deshalb krass zensierten Versuchs in Nouvelle-Vague-Kino, Un mondo nuovo (1966), und ob der brutalen Melancholie seiner Huldigung an Giorgio Bassani, Il giardino dei Finzi Contini (1970, der vierte Oscar sowie der Goldene Bär in Berlin). Es gibt viel neu zu betrachten bei De Sica – aber um seinem Genie gerecht zu werden, ist es ratsam, sich vom Primat des Neorealismus zu lösen.
 
Anfangen sollte man dabei mit seinem Schaffen als Schauspieler – denn das war De Sica zuvorderst. Begonnen hat er am Theater, primär mit Boulevardstoffen. Typen skizzieren und damit sogleich aufzuspießen, das beherrschte er: Zwei, drei Gesten bzw. Gesichtszüge reichten völlig aus. Sein wahrer Entdecker fürs Kino war Mario Camerini, der ihn in der frühen Tonfilmära zum Inbegriff der (klein)bürgerlichen Mittelschicht im faschistischen Italien machte – und wie kein anderer De Sicas Zugang zur Regie prägte. Ab 1940 begann er nicht nur selbst Regie zu führen, sondern nahm auch immer stärker als Co-Autor und/oder Co-Regisseur (meist uncreditiert) Einfluss auf einige Filme, in denen er offiziell nur spielte.
 
Einige seiner darstellerischen Arbeiten ragen heraus – ob für Roberto Rossellini (als bewegender Generale Della Rovere), Max Ophüls (Madame de...) oder für die Meister der italienischen Nachkriegskomödie wie Dino Risi, Luigi Comencini, Mario Monicelli, Luigi Zampa. Im Großen und Ganzen nahm De Sica die Rollen jedoch, wie sie kamen: Dank seiner Leidenschaft fürs Glücksspiel sowie seines berühmt-berüchtigten Doppellebens mit zwei Familien, für deren Unterhalt zu sorgen war, brauchte er ständig Geld. Die Arbeiten sind Legion, wo De Sica in nur wenigen Szenen auftaucht, damit aber den ganzen Film sehenswert macht. Da geht es immer wieder furchtlos zu: Hemmungslos werden Grimassen geschnitten, beim Singen selten alle Noten getroffen, dies alles aber mit einem so exakten Sinn für Rhythmus, einer so präzisen Körperbeherrschung, dass man aus dem freudigen Staunen nicht herauskommt. Und das bis zu seinem Tod im November 1974 – einem Jahr, in dem er noch an mehreren Filmen gearbeitet hatte. Man nennt das wohl: aus dem Leben gerissen.

Die Retrospektive präsentiert 21 Filme von Vittorio De Sica aus den Jahren 1941 bis 1970 sowie 13 seiner Arbeiten als Darsteller. Co-Kurator Olaf Möller wird mehrere Einführungen sowie eine De-Sica-Lehrveranstaltung an der Universität Wien (Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft) halten. Das Projekt wird unterstützt vom Italienischen Kulturinstitut in Wien, Cinecittà Luce und der Cineteca Nazionale.