L'avventura, 1960, Michelangelo Antonioni (Foto: Deutsche Kinemathek)

Sizilien Kino der Inseln: Eine italienische Reise

6. Jänner bis 9. Februar 2017

"Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem." – Johann Wolfgang von Goethe

Nachdem das Filmmuseum letzten Jänner ein Bild der Metropole Rom aus Sicht des italienischen Nachkriegskinos entworfen hat, fällt der Blick zum Jahresauftakt 2017 auf einen nicht weniger ikonischen Ort. Sizilien, die vielzitierte "Insel der Widersprüche", ist bis heute Inbegriff des wirtschaftlich unterentwickelten Südens von Italien, notorisch geprägt durch feudalistische Strukturen, die sich im Würgegriff der Mafia fortpflanzten; andererseits wird die Region dank ihrer faszinierenden Kontraste und (Kultur-)Landschaften weiterhin als Traumziel wahrgenommen, nicht nur von Touristen.

Im Zuge der vergangenen Dekade ist der sizilianische Archipel (der die umgebenden Inselgruppen inkludiert) vor allem als Flüchtlingszone in die Schlagzeilen gerückt, was weitere historische Ambivalenzen heraufbeschwört. Denn die spezielle Rolle Siziliens als Schmelztiegel entspringt einer wechselhaften Migrationsgeschichte: Aufgrund ihrer exponierten Lage im Mittelmeer wurde die Insel seit der Antike von immer neuen Eroberern eingenommen, die sich mit der ansässigen Bevölkerung vermischten und deutliche Spuren hinterließen – emblematisch etwa in der von arabischen, byzantinischen und normannischen Einflüssen bestimmten Architektur. Diese historisch gewachsene "Unsicherheit" ortet der große sizilianische Autor Leonardo Sciascia als Wesenskern seiner Heimat, der sich "in Furcht und unzugänglichen Leidenschaften" ebenso manifestiert wie "in Gewalt und Fatalismus". Im Feld der Literatur steht Sciascia selbst, neben dem Verismus-Hauptvertreter Giovanni Verga, dem Aristokraten Giuseppe Tomasi di Lampedusa oder dem Nobelpreisträger Luigi Pirandello, federführend für den kulturellen Reichtum einer durch Armut geprägten Gesellschaft.

Die Schau des Filmmuseums verfolgt anhand des berauschenden Kinos der Region solche oft paradox anmutenden Entwicklungslinien. Und sie versucht, jenseits tagespolitischer Kurzschlüsse die historischen Wurzeln unserer Sizilien-Bilder freizulegen. Die Reise führt von den großen Würfen des Nachkriegs-Neorealismus wie Luchino Viscontis La terra trema nach Verga, Roberto Rossellinis Stromboli (mit der Nebeninsel als genius loci spiritueller Sizilien-Landschaftsmalerei) oder Pietro Germis Ur-Mafiafilm In nome della legge quer durch das "Goldene Zeitalter" – mit Meilensteinen der Commedia all'italiana und kanonischen Werken wie Antonionis L'avventura oder Viscontis Lampedusa-Verfilmung Il gattopardo – bis zu den späteren Politthrillern nach Sciascia-Vorlagen. Die unterschiedlichsten Richtungen des italienischen Kinos erfahren dabei ihre spezifisch "sizilianische" Ausprägung.

Nach dem Zerfall der großen Filmindustrie in den frühen 80er Jahren geriet die Inselregion zum Brennpunkt einer Art Kino-Renaissance. Während die Taviani-Brüder (mit dem Pirandello-Episodenfilm Kaos), Giuseppe Tornatore (mit glatten, aber dezidiert "einheimischen" Arbeiten wie Nuovo Cinema Paradiso) oder Emanuele Crialese (mit der nach Lampedusa verlegten Stromboli-Variation Respiro) im Mainstream reüssierten, leiteten Marco Risi und Autor Aurelio Grimaldi mit dem ruppig-realistischen Mery per sempre den Aufbruch eines regionalen Kinos ein. Dessen Blüte zeigt sich in der bizarren Komik des Duos Ciprì und Maresco (Il zio di Brooklyn) ebenso wie im grotesken Mafia-Musical Tano da morire der Regisseurin Roberta Torre oder in Pasquale Scimecas strenger Biografie des von der Mafia ermordeten Gewerkschaftsführers Placido Rizzotto.

Als ältester Film der Schau etabliert La terra trema (1948) mit seiner beispielhaften Fusion von Realismus und Opernhaftigkeit zugleich die ästhetischen Eckpfeiler eines Kinos aus dem regionalen Kulturkreis. Spürbar bleibt dies auch in den Filmen über die Ära des Risorgimento wie Il gattopardo oder Roberto Rossellinis Viva l'Italia über Garibaldis erfolgreiche Invasion, die 1861 zur Eingliederung Siziliens ins italienische Königreich führte. (Der von Sciascia mitverfasste Film über das Bronte-Massaker beleuchtet dazu noch ein dunkles Kapitel von Garibaldis „Zug der Tausend“.) Trotz der bejubelten "Befreiung" sorgte die Kluft zwischen der kleinen, reichen Elite aus Großgrundbesitzern und Aristokratie sowie der Mehrheit von mittel- und rechtlosen Landarbeitern ab 1880 für eine riesige Auswanderungswelle in die USA, während die Schutztruppen der Feudalherrscher zur Vorstufe der Mafia mutierten – Alberto Lattuadas schwarze Komödie Mafioso bringt 1962 das Erbe beider Entwicklungen kongenial zusammen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die anhaltende Armut der Nachkriegsjahre längst eine zweite Auswanderungswelle nach Norditalien und ins europäische Ausland bewirkt; sie ist das Thema von Germis Il cammino della speranza und Werner Schroeters Palermo oder Wolfsburg. Auch Siziliens Umwandlung in eine autonome Region 1946 vermochte den Sumpf aus Misswirtschaft, Korruption und Mafia-Dominanz nicht trocken zu legen. Francesco Rosis Dekonstruktion des mafiös vernetzten "Robin Hood" Salvatore Giuliano oder das Politaktivisten-Martyrium Un uomo da bruciare von den Tavianis verhandeln die Verfilzungen dramatisch, Filme wie Luigi Zampas L'arte di arrangiarsi liefern ein satirisches Spiegelbild – und stimmen auf den Sixties-Höhenflug der Commedia all'italiana ein, wo Germi-Klassiker wie Divorzio all'italiana das Machismo-Selbstbild des Sizilianers zerlegen, zugespitzt in den Siebzigern von Lina Wertmüllers Mimì metallurgico ... oder Salvatore Samperis Malizia.

Krimispezialist Damiano Damiani sezierte indessen mit La moglie più bella (nach einem wahren Vergewaltigungsfall) in mustergültiger Engführung die patriarchalen und verbrecherischen Aspekte Siziliens – gleich nach der Freispruchwelle der ersten Cosa-Nostra-Prozesse 1969. Parallel dazu manifestierte sich der öffentliche Zorn über die Mafiakriege der Sechziger in erstaunlichen Exposés nach Sciascia-Vorlagen wie Elio Petris A ciascuno il suo oder Rosis Cadaveri eccellenti. Über ihr sizilianisches Mafia-Thema hinaus deckten diese Filme gesamtstaatliche Verhältnisse auf – ganz im Sinn des Autors, der sein Heimatvolk ("das nur die Extreme kennt") als ideale Metapher für größere Zusammenhänge verstand. Darin ist eine weitere Ambivalenz des Sizilien-Kinos zu erahnen: Obwohl es durch konkrete Regionalität besticht, vermittelt es universale Erkenntnisse.

Die Retrospektive findet mit Unterstützung des Istituto Luce – Cinecittà sowie des Italienischen Kulturinstituts in Wien und der Italienischen Zentrale für Tourismus ENIT statt.
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