Neotpravlennoe pis'mo (Ein Brief, der nie ankam), 1959, Michail Kalatozov

Utopie und Korrektur
Sowjetisches Kino 1926-1940 und 1956-1977

13. Oktober bis 30. November 2017

Unsere Retrospektive widmet sich im Jubiläumsjahr 2017 der Revolution von 1917 in Russland. Sie besteht jedoch nicht aus mythologisierten "Rekonstruktionen" dieser Ereignisse auf der Leinwand, sondern aus 15 Filmpaaren, von denen jedes Paar auf die eine oder andere Weise von den utopischen Ideen der Russischen Revolution und ihren "Korrekturen" im Lauf der Geschichte zeugt.

So wie Revolutionen nicht ohne Utopien beginnen – dem Bild eines Zustands allgemeinen Glücks und totaler Harmonie –, vollziehen sich auch die sozialen Veränderungen nicht ohne Umarbeitungen des ursprünglichen Traums durch die Realität. Die Ursachen und Bedingungen für diese "Korrekturen" sind vielgestaltig: der Konflikt zwischen lebendiger Vielfalt und dem Schematismus der Konzeptionen; die Trägheit der Geschichte und der Gewohnheiten; ethnische Vorurteile und soziale Rückständigkeit, die Machtliebe der Führer und die Korruption der Beamten; die Ängste der treu Ergebenen und die Paranoia der Zensur.

Im Russland des 19. Jahrhunderts verwandelte sich der Traum von einer Herrschaft der Gerechtigkeit in das Ideal der "Volksmacht", deren Analogon im 20. Jahrhundert die Utopie des Kommunismus wurde. Gemäß den Losungen von Marx erklärten die Bolschewiki ihren Umsturz zur Sozialistischen Revolution auf dem Weg ins Kommunistische Paradies. Dabei korrigierten Lenin und seine Anhänger die marxistische Utopie einschneidend. Sprach Marx von einer Umsetzung in Ländern des entwickelten Kapitalismus unter der Erfahrung der Demokratie, so verkündeten die Bolschewiki die Realisierung der Utopie in einer halbfeudalen Monarchie mit halb analphabetischer Bevölkerung. Nach der Revolution wurden die Ideale jener bereits revidierten Utopie den tragischen "Korrekturen" eines grausamen Bürgerkriegs, des fanatischen "Kriegskommunismus" und der ungeheuerlichen Verbrechen des Stalinismus unterzogen. Dem Tod des Tyrannen 1953 folgten zaghafte Korrekturen ebendieser Korrekturen sowie eine Ersetzung der Ideale durch Rituale; letztlich eine tiefe Krise des gesellschaftlichen Selbstbewusstseins, die zum Zerfall der UdSSR beitrug.

Die Philosophie und die (Film-)Kunst sind nicht bloß Zeugen dieser historischen Prozesse. So wurde das Kino (laut Lenin die "wichtigste der Künste") 1919 nationalisiert und zur Gänze vom Sowjetstaat abhängig – produktionstechnisch, finanziell und politisch. Freiwillig oder unfreiwillig folgt das sowjetische Kino seither den Zickzackbewegungen und mannigfaltigen Transformationen der Utopie. Im Reagieren auf historische Verschiebungen decken die Filme der Schau indirekt oder direkt die "Entstellungen" der Utopie auf; anderswo konnten Filmemacher/innen zu bestimmten Zeiten die Ideale oft kritisch korrigieren oder widerlegen. Nicht zuletzt sprechen viele der Filme von den "Korrekturen" der Zensur, der alle Künste unterworfen waren.

In diesem Sinne stellen unsere 15 Filmpaare eine Geschichte der Konflikte dar, denen sowjetische Filmschaffende sich aussetzten: mal mit der Macht, mal mit der Realität, mal mit der Utopie selbst. So bezeichnete Dziga Vertov 1926 in seinem kollektiven Porträt der UdSSR Ein Sechstel der Erde die Arbeiter, Hirten und Jäger, Tataren, Usbeken und Kaukasier, die Frauen, Kinder und Alten als "Herren des Sowjetlandes". Vertov bemühte sich nicht nur, die Ideale der Revolution auszustellen. Er wollte dieses Selbstempfinden durch filmische Mittel auf seine Zuschauer übertragen, sie mittels des Kinos zu aktiven Bürgern des sozialistischen Staats machen. Wäre jener daran interessiert gewesen, so wäre Ein Sechstel der Erde lange und mit zahlreichen Kopien im Verleih gewesen. Vertovs Punzierung als "Formalist", die seine Filme aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden ließ, war kein Zufall: Die "führende Rolle der Partei" verneinte eine aktive Position der Bürger.

Vierzig Jahre später drehten der lettische Regisseur Uldis Brauns, der Drehbuchautor Herz Frank und eine Gruppe junger Kameraleute den Film 235 000 000. Ihr "kollektives Porträt" der Bürger der UdSSR folgt aber "natürlichen" und "ewigen" Lebenszyklen: Heirat – Geburt der Kinder – Schule – Erwachsenwerden – Arbeit – Alter. Der ursprünglich 132-minütige Film, produziert zum 50. Jubiläum der Revolution, wurde zuerst auf 106 Minuten gekürzt und kam dann in einer 73-minütigen Version in den Verleih, die bald aus dem Verkehr gezogen wurde.

Eine weitere Geschichte: Sergej Eisenstein begann 1926 nach dem Welterfolg des Panzerkreuzer Potemkin mit der Arbeit an einem "dörflichen Film". Die halbdokumentarische, halbfiktionale Generallinie zeigte, wie die Bauern – Herren des Landes und der Produkte ihrer Arbeit – Kooperativen und Genossenschaften organisieren können. Die radikale Korrektur – der Wirklichkeit wie auch des Films – erfolgte durch Stalin selbst, der die Kooperation selbstständiger Bauern durch die Zwangskollektivierung ersetzte. Eine neue Sklaverei entstand: Das Land, die Maschinen und die Arbeit wurden vom Staat enteignet. Eisensteins Die Generallinie wurde auf Stalins Geheiß überarbeitet und in Das Alte und das Neue umbenannt: Das zeitgenössische Elend wurde zur Vergangenheit erklärt und der futuristische Sowchos zur neuen Realität. Letztlich wurde sogar die "korrigierte" Variante verboten.

Dreißig Jahre später drehte der Eisenstein-Schüler Michail Švejcer Fester Knoten: einen Film über die Unfreiwilligkeit der Kolchos-Kollektivwirtschaften, über einen Parteifunktionär und Karrieristen, der einen Kolchosvorsitzenden in den Selbstmord treibt, über den Versuch der Bauern, sich das Recht zur Gestaltung des eigenen Schicksals zurückzuholen. Fester Knoten ist gleichsam Fortsetzung wie Korrektur der Generallinie – und wurde auch gleich verboten, dann vielfach überarbeitet und erst 1988 in der ursprünglich gedachten Form gezeigt.

Die ausgewählten Filme propagieren jeder für sich verschiedene Ideen der "großen Utopie" der Oktoberrevolution: die Umerziehung des Menschen durch die Arbeit im Kollektiv; den Sieg der Aufklärung über das Böse sowie des Menschen über die Natur; die Ablösung der Konkurrenz durch den Wettbewerb; den gesellschaftlichen Triumph der Frau; das Streben zum Heldentum als Norm; die Schaffung einer Internationalen. 100 Jahre später ist uns bewusst, wie jene Ideale in der historischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts korrigiert wurden; aber auch, wie die Praxis des sowjetischen Kinos jene filmischen Utopien korrigierte, häufig um einen hohen Preis für ihre Schöpfer und Schöpferinnen. Auch darin sind diese Filme echte Zeugen der Geschichte. (Naum Kleiman & Artiom Sopin)

Viele der gezeigten Filme waren selten oder noch nie in Österreich im Kino zu sehen und sind nur in 35mm-Archivkopien, hauptsächlich in Russland, vorhanden. Die Filme werden in Originalfassung mit Untertiteln gezeigt. Die Kuratoren Naum Kleiman und Artiom Sopin werden von 13. bis 15. Oktober in Wien zu Gast sein und Einführungen zu den Filmen geben.

Ein gemeinsames Programm von Viennale und Österreichischem Filmmuseum. Das Filmmuseum dankt dem russischen Gosfilmofond sowie dem Österreichischen Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres für ihre Unterstützung bei der Umsetzung der Retrospektive.
Zusätzliche Materialien