The Way We Are, 2008, Ann Hui

Ordinary Heroes
Filme von Ann Hui

2. März bis 29. April 2023

Im Jahr 2020 wurde Ann Hui bei den 77. Filmfestspielen von Venedig mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Erstmals ging dieser renommierte Preis an eine Regisseurin, aber für Hui ist selbst das nur eine weitere Zeile in ihrem Lebenslauf. Die Hong Kong Film Academy hat vier ihrer Filme in die Liste der hundert besten chinesischen Filme aller Zeiten aufgenommen (The Secret [1979], The Spooky Bunch [1980], Summer Snow [1995] und Boat People [1982]). Dass sie sechsmal in der Kategorie Beste Regie gewonnen hat, ist der bisherige Rekord bei den Hongkong Film Awards. Seit der Einführung dieser Preisverleihung vor vier Jahrzehnten gab es nur zwei Filme, die in allen wichtigen Kategorien eines Jahres gewonnen haben und beide wurden von Ann Hui inszeniert (Summer Snow sowie A Simple Life [2011]). Hui nahm an den wichtigsten Filmfestivals teil: Cannes, Venedig und Berlin. Zudem wurde sie 1997 als letzte Hongkongerin mit dem Most Excellent Order of the British Empire ausgezeichnet. Doch trotz all dieser Anerkennung bleibt Ann Hui eine schwer fassbare Figur.

Sie wurde 1947 in Anshan in der Mandschurei geboren, kurz bevor die Stadt von der Volksbefreiungsarmee eingenommen wurde. Zusammen mit ihrer japanischen Mutter und ihrem chinesischen Vater zog Hui zwei Jahre später nach Macau, als sie fünf Jahre alt war, ließ sich ihre Familie schließlich in Hongkong nieder. Hui studierte Literatur an der Universität von Hongkong, bevor sie 1972 an die London Film School ging. Nach ihrer Rückkehr assistierte sie dem einflussreichen Filmemacher King Hu und war unter anderem für das Korrekturlesen der englischen Untertitel für sein Martial-Arts-Meisterwerk A Touch of Zen (1971) zuständig. Anschließend arbeitete sie für das Fernsehen und führte Regie bei Dokudramen, Nachrichtensendungen und kurzen Spielfilmen. Die Neue Welle in Hongkong wurde von Regisseur*innen geprägt, die vom Fernsehen auf die große Leinwand wechselten. Hui ist die Pionierin dieser Welle und die einzige Frau der ersten Generation der Bewegung. Mit 28 Spielfilmen zählt sie neben Tsui Hark zu den produktivsten Filmemacher*innen der Gruppe.
 
Motive wie die Vergänglichkeit und die Suche nach einem Zuhause, die Anstrengungen um den familiären Zusammenhalt, ein sinnliches Erinnern an die Vergangenheit oder das Ringen um eine eigene Identität schöpft Ann Hui aus ihrer Biografie. Sie zeigt die Verwüstungen und Wirren des 20. Jahrhunderts sowie deren Spuren, die sie bei Menschen hinterlassen haben, mit einer solchen Klarheit und Emotionalität, dass man ihre Filmografie als Schlüssel zum ostasiatischen Kino verstehen kann. In Interviews spricht Hui gewöhnlich bescheiden über sich selbst als Künstlerin, reklamiert aber die Absicht, eine Chronik des Lebens in Hongkong schaffen zu wollen, durchaus für sich.

Ann Hui ist eine Filmemacherin, deren Gesamtwerk größer ist als die Summe ihrer einzelnen Filme. Ihre Werke bilden verschiedene Zyklen, die sich aufeinander beziehen. In der Tradition eines Hongkong-Kinos, das populäre Genres künstlerisch interpretiert, machen Genrefilme etwa die Hälfte von Huis Filmografie aus: Action, Geister-geschichten, Melodramen, Thriller, Kriegsdramen und Horror. Zudem ist sie wahrscheinlich die einzige Regisseur*in im ostasiatischen Kino, die solch ein detailliertes Panorama aktivistischer Bewegungen und sozialer Einrichtungen zeigt. Schon in ihrer Fernseharbeit beschäftigt sie sich ausführlich mit Themen wie Flucht, Sozialarbeit oder Korruption und tut dies in Folge auch in ihren Kinofilmen.

Als eine Regisseurin, die eine intensive Zusammenarbeit mit ihren Schauspieler*innen pflegt, kann ihre Filmografie als Verzeichnis der wichtigsten Protagonist*innen des Hongkong-Kinos gelesen werden: Andy Lau, Josephine Siao, Chow Yun-fat, Maggie Cheung, Cora Miao, Deanie Ip, Anita Mui, Michelle Yeoh, Jacky Cheung und Lee Kang-sheng, um nur einige zu nennen. Das Kino selbst wird selten zum Thema ihrer Filme, aber A Simple Life – in dem ein Filmproduzent immer wieder aufs Festland reist, um in China an historischen Filmen zu arbeiten – dient als bittere Metapher für die Filmindustrie Hongkongs und ihren Niedergang.

Wie viele Filmemacherinnen ihrer Generation zögert auch Ann Hui, sich als Feministin zu bezeichnen. Dennoch gehören ihre besten Arbeiten zu den Höhepunkten eines feministischen Kinos. In Interviews hat Hui erklärt, dass es ihr "einfach leichter fällt, sich mit weiblichen Charakteren zu identifizieren". Frauen sind in ihrem Kino oft die treibende Kraft. Über Politik spricht sie in der Regel nur ungern, da sie sich nicht als Expertin sieht. Dennoch ist fast jeder ihrer Filme tief in einen politischen und historischen Kontext eingebettet.

Ihre formale Methode basiert auf einer Polyphonie von Stimmen und einer Vielzahl von Blickwinkeln. Dabei kann es sich um innere Monologe der Figuren handeln, um Briefe, die sie schreiben, um ihre geäußerten Gedanken oder um Interviews. Ihre Berufung als Chronistin, ihre beachtliche Fernseharbeit, ihre Themenvielfalt, insbesondere ihre Aufmerksamkeit für Minderheiten und Entrechtete aller Couleurs, Aktivist*innen und soziale Strukturen, stellen sie in die Nähe von Regisseur*innen wie Želimir Žilnik. Im Gegensatz zu Žilnik ist sie jedoch keine aktivistische Filmemacherin, sondern vielmehr eine Beobachterin, die daraus ihre Themen schöpft.

Was ist Politik? Wie kann Aktivismus aussehen und was kann sein Ziel sein? Für Ann Hui scheint das Streben nach Liebe und Zärtlichkeit, auch wenn es vergebens ist, eine politische Geste zu sein. (Boris Nelepo)

Leider kann Ann Hui nicht wie angekündigt zum Auftakt der Retrospektive in Wien sein.
 
In Kooperation mit Red Lotus Asian Film Festival Vienna