John Cassavetes
2. Dezember 2015 bis 6. Jänner 2016
„Directing really is a full-time hobby with me. I consider myself an amateur filmmaker.“ John Cassavetes, 1929 in New York als Sohn griechischer Einwanderer geboren, 1989 in Los Angeles verstorben, war Zeit seines Lebens ein maverick, ein Außenseiter – im amerikanischen Filmbusiness mehr geduldet als geachtet; als Schauspieler angesehener denn als Regisseur; von der avancierten Filmkritik zwar gewürdigt (vor allem in Europa), bei den Kinobesuchern aber eher als „schwierig“ verschrien.
Bald nach seinem Tod setzte sich beim nachwachsenden Publikum und in der heute prägenden Generation von Kritikern eine andere Sichtweise durch: dass der „Hobbyfilmemacher“ John Cassavetes vielleicht der bedeutendste Regisseur war, den die USA nach dem Ende des klassischen Studiosystems hervorgebracht haben. Mehr noch: dass sein Kino der Körper und Gesichter, der emotionalen Intensitäten und schauspielerischen Verausgabung, der „dokumentarischen Aufzeichnung von Fiktion im Moment ihrer Entstehung“ (Ulrich Gregor) eine entscheidende Bruchlinie im modernen Kino markiert.
Cassavetes’ Regiedebüt Shadows entstand aus einem Schauspiel-Workshop, das er 1956 initiiert hatte – ein learning by doing auf den Straßen von New York, geprägt von jenem Lebensgefühl, das in den 1950er Jahren schwarze und weiße Hipster-Kulturen zusammenführte (z.B. jene des Jazz und der Beat-Literatur). Die freie Ästhetik und produktionstechnische Unabhängigkeit von Shadows wurden zum Signal für ein New American Cinema und ein Gründungsmythos für alle „Independents“ seither. Es sollte jedoch weitere zehn Jahre dauern, bis Cassavetes ein brauchbares Produktionsmodell abseits von Hollywood etablieren konnte. Dazwischen liegen zwei Kinofilme innerhalb der Industrie, TV- und Schauspielerarbeiten sowie die extreme, dreijährige Erarbeitung seines „zweiten Debüts“. Der Film Faces (1965–68) ist dieser Neubeginn – und ein Neubeginn für das erzählerische Kino überhaupt.
Faces und die folgenden sieben Meisterwerke – von Husbands (1970) bis Love Streams (1984) – sind getragen von einer Konzeption des Kinos, die ganz und gar vom Schauspieler als lebendigem Wesen mit einer eigenen Wirklichkeit ausgeht. Die Darsteller sind Co-Autoren all dessen, was an Witz und Bitterkeit, Schmerz und Widerstandskraft, an condition humaine in Cassavetes’ Filmen zu erfahren ist. Sie sind seine „Familie“, bestehend aus tatsächlichen und „adoptierten” Mitgliedern, darunter Gena Rowlands (seine Ehefrau seit 1954), Ben Gazzara, Peter Falk, Seymour Cassel und Cassavetes selbst. „There’s no such thing as a good actor‘”, sagt Cassavetes, „acting is just an extension of life” – mit all dessen Lücken und „Fehlern”, Stolpern, Flüstern und Schreien.
Seine Filme zeigen sanfte Streuner oder überdrehte Ehemänner, Halbgangster, Schauspieler und verzweifelte Mittelstandsmenschen, „immer am Rande, zwischen der Tragödie und der Groteske, zwischen der Grausamkeit und dem Mitleid, zwischen Gewalt und Zärtlichkeit – eine kleine Stimmungsänderung, und man sieht einen gänzlich anderen Film, ein wenig so, wie man in einen Spiegel sieht“ (Georg Seeßlen). Was diese Erfahrungen so intensiv macht, schreibt Anja Streiter, ist „das Ausmaß an Handarbeit, Kopfarbeit und emotionaler Arbeit. Nicht Hardware, nicht Software, sondern Wetware. Blood, Sweat and Tears, guts and nerves, love, hope, ideals. Es ist fast eine Kunst des 19. Jahrhunderts. Durch und durch humanistisch, romantisch, individualistisch. Es ist genau das, was sie für zeitgenössische Amerikaner so verstörend machte“.
Nach einer ersten Retrospektive vor mehreren Jahren präsentiert das Filmmuseum nun einen erweiterten Cassavetes-Kosmos: mit zentralen Schauspielerarbeiten und TV-Ausflügen wie der Detektivserie Johnny Staccato (1959), in der er parallel zu Shadows seine innovativen Ideen mit Industrienormen zu fusionieren suchte. Als Darsteller war Cassavetes ebenso intensiv (und verstörend) wie als Regisseur – in Ausnahme-Actionfilmen (The Killers, The Dirty Dozen), als dämonischer Schurke (Rosemary's Baby, The Fury) oder zusammen mit seinem „Adoptivbruder” Peter Falk in dessen Columbo-Serie und in Elaine Mays Meisterwerk Mikey and Nicky – einer langen, improvisierten Reise durch die Nacht.
Die Retrospektive ist, mit Dank für ihren großen Einsatz, allen Filmpatinnen und -paten des Österreichischen Filmmuseums gewidmet.