The Man Who Fell to Earth

Nicolas Roeg

1. März bis 3. April 2019

Als wir letzten Sommer beschlossen, den großen britischen Kameramann und Regisseur Nicolas Roeg im Jahr seines 90. Geburtstags zu ehren, war nicht abzusehen, dass es eine Retrospektive in memoriam werden würde: Am 23. November 2018 starb Roeg in seiner Heimatstadt London. Doch ganz im Sinne des Schöpfers von Klassikern wie Performance (1968/70) mit Mick Jagger, dem Venedig-Psychothriller Don't Look Now (1973) oder The Man Who Fell to Earth (1976) mit David Bowie ist das Timing für die Retrospektive eigentlich unerheblich (nicht zufällig heißt einer seiner persönlichsten Filme Bad Timing). Denn Roegs Kino hob die konventionellen Vorstellungen von Raum und Zeit aus den Angeln und sprengte in kühnen Schnittfolgen die Normen des linearen Erzählens, um zum (dunklen) Kern der menschlichen Erfahrung vorzustoßen. In seinen Filmen gerät die Wahrnehmung der Welt zum Bewusstseinsstrom, in dem sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft assoziativ durchmischen, und bisweilen selbst der Tod als Ende aller Möglichkeiten überwunden scheint. So ist Roegs Werk gewissermaßen zeitlos und seine einst wild umstrittenen Innovationen sind längst Teil der allgemeinen Filmsprache (und darüber hinaus der gesamten Populärkultur) geworden.
 
Der Film sei als Kunst "in höchstem Maße unterschätzt" schrieb Roeg 2013 in seiner Autobiografie The World Is Ever Changing: er sei "noch immer so eine magische und mysteriöse Kombination von Wirklichkeit, Kunst, Wissenschaft und dem Übernatürlichen – sowie ein Portal ins Wesen der Zeit. Vielleicht ist er sogar der erste Anhaltspunkt, um das Rätsel zu lösen, was wir hier auf dieser Welt sollen." Kino war für Roeg nicht nur "die große Liebe meines Lebens", sondern auch eine Art alchemistisches Wundermittel, um eine "Kunst der Gedankenübertragung durch die Gegenüberstellungen von Bildern" zu kreieren. Die unvergessliche und zurecht berühmte Liebesszene in Don't Look Now, wo der Akt und sein Vor- und Nachspiel (und damit auch die widersprüchlichsten Emotionen) zärtlich wie melancholisch ineinanderfließen, ist nur ein Musterbeispiel.
 
Vom visionären Gestus seiner Inszenierung und seinen gelegentlichen esoterischen Aussagen sollte man sich nicht in die Irre führen lassen: Roeg verstand sich weder als Formalist noch als reiner Metaphysiker, sondern wollte vom Leben und seinen Unwägbarkeiten erzählen, inklusive der Fantasien, die es heimlich steuern. Sein Hang zum Phantastischen paarte sich mit einem schonungslos direkten Blick in die Abgründe menschlicher Beziehungen. Ob er von der Entfremdung in der modernen Welt erzählte (wie sie exemplarisch David Bowie als Außerirdischer in The Man Who Fell to Earth erfährt), vom bestürzenden Fallout der Leidenschaft wie im intensiven Wien-Film Bad Timing (1980) oder von der existenziellen Konfrontation mit den letzten Dingen (in praktisch allen seinen Filmen) – geradezu obsessiv folgte Roeg dem Pfad, den eines seiner Lieblingszitate (von William Butler Yeats) umreißt: "Sex and death are the only things that can interest a serious mind."
 
So verwundert es wenig, dass Roegs inzwischen kanonisiertes Frühwerk zu seiner Entstehungszeit ebenso viel Aufsehen wie Abscheu erregte: Sein (mit Donald Cammell inszeniertes) Regiedebüt Performance wurde von der New York Times als "der widerlichste Film von allen" attackiert und vom Studio zwei Jahre lang unterdrückt, Bad Timing vom Verleih-Manager als "a sick film made by sick people for sick people" bezeichnet. Mit dem Großproduktions-Flop des missverstandenen Meisterwerks Eureka (1983) zeichnete sich ein Umbruch ab: Roeg drosselte zwar den stilistischen Furor, blieb seinen Themen aber kompromisslos treu. Mit ihren starken komödiantischen Zügen wurden Filme wie das Monroe-trifft-Einstein-Kammerspiel Insignificance (1985) oder die hinreißende Adaption von Roald Dahls Horror-Kinderbuch The Witches (1990) als Mainstream-Annäherungen gesehen, obwohl sich das Roeg-Verstörungspotenzial nur oberflächlich verringerte: Werke wie die bizarre Amerika-Satire Track 29 (1988) nach einem Drehbuch von Englands genialer TV-Edelfeder Dennis Potter oder das spirituelle Psychothriller-Todesmelodram Cold Heaven (1991) sind pure Roeg-Trips, ebenso das nach langer Schaffenspause (und hauptsächlicher TV-Beschäftigung) entstandene und angemessen eigenwillige Abschiedswerk Puffball (2007).
 
Neben allen 15 Kino-Regiearbeiten Roegs – inklusive des kaum gezeigten Konzertfilms Glastonbury Fayre (1972) und des Starregisseur-Episodenreigens Aria (1987) – präsentieren wir fünf repräsentative Beispiele seiner Arbeit als Kameramann. In den 1960ern hatte sich der ehemalige Studio-Laufbursche Roeg als einer der führenden Bildgestalter Englands etabliert: mit Farbwundern wie Roger Cormans The Masque of the Red Death (1964) oder John Schlesingers Far From the Madding Crowd (1967) und vor allem bei Beatles-Regisseur Richard Lester, dessen Geniestreich Petulia (1968) mit seinen Zeitsprüngen und tragikomischen Beziehungsbildern wie ein Vorläufer von Roegs Werk wirkt.
 
Der deutsche Regisseur und Roeg-Experte Dominik Graf wird zum Eröffnungswochenende als Gast anwesend sein und zum Werk Nicolas Roegs Auskunft geben. Die Retrospektive findet in Kooperation mit dem DFF – Deutschen Filminstitut und Filmmuseum statt.
Zusätzliche Materialien