Keuk jang jeon (Tale of Cinema), 2005, Hong Sangsoo

Hong Sangsoo – Frühe Werke
Come Drink with Me

2. bis 30. November 2022
 
Die außergewöhnliche Produktivität des südkoreanischen Regisseurs Hong Sangsoo manifestiert sich in 28 Filmen und drei Kurzfilmen in 26 Jahren: eine Welt, in die man bei unserer zweiteiligen Retrospektive eintauchen kann. Jeder der Filme ist dabei wie ein Baustein von einem Gebäude, in dem man sich in einem Taumel aus Differenzen und Wiederholungen (und Reduktionen) alsbald wieder verliert.
 
1960 als Sohn einer Filmproduzentin geboren, studierte Hong Film in Seoul und den USA. Auf dem Rückweg nach Südkorea widmete er sich einer regelrechten Filmorgie in der Pariser Cinémathèque und drehte nach einigen Regiearbeiten für das Fernsehen 1996 seinen ersten Kinospielfilm. Sein Stil ist absolut unverwechselbar, seine Filmsprache folgt ihrer eigenen Grammatik: eine Geschichte, die sich ausgehend von einem Ereignis, über das wenig bis gar nichts bekannt ist, entfaltet; eine Betonung der weiblichen Perspektive sowie der Unzulänglichkeit, Feigheit und Grausamkeit der Männer; Besäufnisse, die Wahrheiten enthüllen; statische Einstellungen von sprechenden Menschen; langsame Zooms auf die Figuren in Schlüsselmomenten von langen Plansequenzen, und sehr oft eine Zäsur, mit der eine Spiegelung/Variation der Geschichte einsetzt.
 
Nach ein paar experimentellen Versuchen entschied sich Hong unter dem Einfluss von Robert Bressons Journal d'un curé de campagne (Tagebuch eines Landpfarrers, 1950) für das Erzählkino. Jahrelang trägt er Bressons Buch Noten zum Kinematographen als Vademecum bei sich, in dem man eine Art Manifest für Hongs Filme lesen mag: "Ein kleines Sujet kann Vorwand sein für vielfältige und tiefe Kombinationen. Meide die zu weiten oder zu entfernten Sujets, wo nichts dich warnt, wenn du dich verirrst. Oder aber nimm davon nur, was in dein Leben vermengt sein könnte und aus deiner Erfahrung kommt." Denn sowohl Hongs Protagonist*innen (Regisseure, Schriftsteller*innen, Schauspieler*innen, Uni-Professoren, Filmstudent*innen) als auch die Schauplätze (Seoul und andere koreanische Städte, Paris, wo er gelebt hat, Cannes und Berlin, wo er oft bei Festivals zu Gast ist) sind ihm nah.
 
In ihrer angenehmen und fesselnden Weise wirken seine Filme absichtlich eher leichtgewichtig. Hong vermeidet Selbstgefälligkeiten und auffällige Ambition, er baut lieber filigrane Strukturen aus scheinbar beiläufigen, spielerischen und sardonischen Beobachtungen, um Banalitäten entwirft er eine Choreografie des Alltags in all seinen Unwägbarkeiten. Hongs Filme könnten auch als Studien der Idiotie gesehen werden, der Filmwissenschaftler Sulgi Lie spricht vom "lächerlichen Ernst".

Im November zeigen wir Hongs frühe Werke, die besser budgetiert und länger sind als die späteren Filme der 2010er Jahre. Sein Debüt ist die Romanverfilmung The Day a Pig Fell Into the Well (1996), deren düstere Charaktere noch vom Ende der Militärdiktatur geprägt sind und sich als feige, unreife und ignorante Männer erweisen. Wie seine Regiekollegin Claire Denis feststellte, sind Frauen die eigentlichen Heldinnen von Hongs Filmen. Schon im selbstverfassten Zweitling The Power of Kangwon Province (1998) zeigt sich Hongs Freude am Spiel mit der Filmstruktur.
 
Während seines Studiums des experimentellen Films in Chicago hatte Hong eine Offenbarung durch ein Bild von Cézanne: "Wenn ich sein Gemälde sehe, brauche ich nichts anderes mehr". Bei Eric Rohmer findet er diese Geste Cézannes wieder: Objekte einer konkreten Situation (ein Berg, ein Baum oder eine Karaffe) verwendet er als Rohmaterial, um zur Abstraktion zu gelangen. Cézanne zeichnet die Linien zwischen einer konkreten Umgebung und einer abstrakten Konstruktion. Während Cézanne hier aufhört, wäre Picasso weitergegangen – und just diese Zwischenwelt interessiert auch Hong, der sagt: "In Virgin Stripped Bare by Her Bachelors (2000) ist das Verhältnis von Konkretem und Abstraktion wasserdicht; man muss diese Filme auf zwei Ebenen sehen. Mit On the Occasion of Remembering the Turning Gate (2002) und Woman Is the Future of Man (2004) habe ich diese sehr künstliche Konstruktion aufgegeben und versucht, in der Mitte zu sein."
 
Mit Tale of Cinema (2005) wird ein neuer Zyklus eingeleitet, auch gründet Hong Sangsoo bei dieser Gelegenheit seine Produktionsfirma, Jeonwonsa. Mit Hilfe eines Films-im-Film erweitert er die formalen Möglichkeiten, fügt eine Stimme aus dem Off hinzu und führt das ein, was zu seinem Markenzeichen wird: den Zoom. Der von Jean Renoirs The Woman on the Beach (1947) übernommene Titel des nächsten Films, Woman on the Beach (2006), legt nahe, dass Hong den von ihm verehrten Filmemachern (Bresson, Rohmer, Ozu, Buñuel, Renoir, John Ford), treu bleibt, aber der Film etabliert vor allem einen komödiantischen Impetus in seinem Werk: von Männern in einer Fantasiewelt und Frauen, die ihrer Bildwerdung zu entkommen versuchen. Night and Day (2008) schließlich ist Hongs erster im Ausland gedrehter Film: Ein junger Maler flieht nach Paris und findet sich am Ende in einer koreanischen Gemeinschaft wieder. Like You Know It All (2009) wiederum hebt das Vertrauen von Hongs Kino in die Zuschauer*innen hervor: Seine Filme bauen ein Universum auf, in dem das Publikum besonders willkommen ist, weil ihm ein Platz in der Dramaturgie eingeräumt wird. (Pierre-Emmanuel Finzi)

In Anwesenheit von Hong Sangsoo am 2. November 2022
 
In Kooperation mit der Botschaft der Republik Korea in Wien und dem Filmmuseum München
 

Unsere zweiteilige Retrospektive umfasst alle Spielfilme von Hong Sangsoo außer Saenghwalui balgyeon (On the Occasion of Remembering the Turning Gate, 2004), der sich leider als nicht mehr verfügbar herausgestellt hat.
 
Hong Sangsoos Film So-seol-ga-ui Yeong-hwa (Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall, 2022) ist im November im METRO Kinokulturhaus zu sehen. Dieser sowie sein Film Walk Up (2022) wurden auch im Rahmen der Viennale 2022 präsentiert.
Zusätzliche Materialien