Généalogies d'un crime (Genealogies of a Crime), 1997, Raúl Ruiz

Raúl Ruiz

20. Oktober 2023 bis 10. Jänner 2024

Raúl Ruiz (1941–2011) interessierte sich für viele Wissenschaften: Mathematik, Neurobiologie, Chemie, Physik, Medizin, Astronomie. Er vertiefte sich in Lektüre zu den Themen und diskutierte mit Expert*innen darüber (was ihm durch diverse Lehraufträge ermöglicht wurde). Theorien über die Funktionsweise des Gehirns faszinierten ihn besonders. Die wissenschaftliche Spekulation überschneidet sich in Ruiz' Tagebüchern mit Bereichen, die man ihm eher zuschreiben würde: Ästhetik, Philosophie, Geschichte, Weltliteratur, Theologie und Politik. Kurzum: Ruiz ließ sich von allem inspirieren, was ihn fesselte. Sein erstaunlicher Einfallsreichtum erlaubte ihm, aus dem abstraktesten und abstrusesten Konzept die Idee zu einer Szene oder sogar einer ganzen Geschichte zu entwickeln. So schien ihm Marcel Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wie eine Illustration des Gödel-Universums – was er mit seiner Adaption Le Temps retrouvé (1999) demonstrierte.
 
Dass Ruiz häufig als verrückter Surrealist missverstanden wird, ist verständlich: Seine Fantasie kannte keine Grenzen. Aber er verzichtete nie auf ein Element der Vernunft: Er ging diszipliniert vor wie der von ihm bewunderte Luis Buñuel und verlor sich nie ganz in halluzinatorischen oder meditativen Visionen wie Alejandro Jodorowsky und David Lynch. Vielmehr folgte seine Fabulierfreude einem in Wissenschaft und Philosophie anerkannten Modell: dem Gedankenexperiment. Ruiz nahm Ideen, spielte mit ihnen und probierte aus, wie weit er damit gehen konnte. Dabei griff er aufs absurde Theater zurück, das ihn während der Jugend in Chile geprägt hatte.
 
Wie beim französischen Schriftsteller und Pataphysiker René Daumal, dessen Parodien wissenschaftlichen Denkens auf genauer Recherche basierten, war Komik für Ruiz ein zentraler Faktor, wenn nicht sogar ein kosmisches Prinzip. Wie Daumals Allegorien – ob erzählend oder essayistisch – sind die Werke von Ruiz mit symbolischen Typen bevölkert. Neben Fabel und Allegorie bevorzugt Ruiz eine Art übertrieben buchstäblicher Illustration. So nutzt er das Spiegelstadium aus der psychoanalytischen Theorie in Généalogies d'un crime (1997) für ein gespiegeltes Doppelspiel in einer Geschichte über Psychoanalyse. Und das Krimi-Prinzip, nach dem Ermittler ihre Nachforschungen möglichst unbemerkt durchführen sollen, wird in Ce jour-là (2003) auf die Spitze getrieben: Hier rühren sie wirklich keinen Finger!
 
Ruiz betonte immer wieder, dass ihm nicht die Integrität einer Fiktion wichtig war – was man heute world-building nennt –, sondern ihre Möglichkeit als Brücke zwischen mehreren fiktionalen Räumen zu dienen, die er lieber skizzierte als realistisch auszumalen. Dem populären Trend zum Multiversum à la Everything Everywhere All at Once (2022) war Ruiz weit voraus, wie ein Blick auf die schwindelerregende Konstruktion von Combat d'amour en songe (2000) zeigt: Der Film beginnt mit einer Hochgeschwindigkeits-Gebrauchsanweisung, wie man seinen Logiksprüngen durch verschiedene Welten folgen sollte.
 
Ruiz entwickelte die Vorliebe für erzählerische Brücken in den 1960ern in Chile. 2023 hat seine brillante Partnerin und Mitarbeiterin Valeria Sarmiento El Realismo socialista (gedreht 1972–73) rekonstruiert: Dieser krönende Abschluss einer posthumen Trilogie – nach El tango del viudo y su espejo deformante (1967/2020) und La Telenovela errante (1990/2017) – erzählt zwei getrennte Geschichten über zwei sehr unterschiedliche Individuen und ihre sozialen Milieus.
 
Bei Ruiz zählen genau diese Übergänge und Scharniere – die Leinwände, Bildschirme, Spiegelbilder, Gemälde und sonstigen Requisiten –, die es erlauben, von einer Geschichte zur nächsten, von einem Raum in einen anderen zu springen. Ruiz hatte eine Theorie von der überragenden Bedeutung zweitrangiger Bestandteile, die in den Vordergrund treten, unerwartete Muster formen und dem Werk seine wahre Struktur geben. Er spielte stets mit dem Paradox, dass wir Filme automatisch als homogenes Ganzes wahrnehmen, obwohl sie Tausende Diskontinuitäten und Grauzonen enthalten. "Wenn es 300 Einstellungen gibt, gibt es 300 Filme", so Ruiz, und in seinen Filmen können sogar einzelne Einstellungen in andere Zeiten und Räume übergehen wie in Les Âmes fortes (2001).
 
Statt konventionelle Erzählformen zu bedienen, bevorzugte Ruiz konzeptuelle Zugänge: Einbetten von Geschichten in Geschichten, kreisförmige Konstruktionen, paradoxe Zeitmaße (ein Tag kann ewig dauern und die Ewigkeit einen Tag, der sich immer wiederholt). Les Trois couronnes du matelot (1983), La Ville des pirates (1983), Trois vies et une seule mort (1996) oder Mistérios de Lisboa (2010) zählen zu den Ruiz-Meisterwerken, die solche labyrinthischen Formen erforschen. In seinem Tagebuch schrieb Ruiz: "Wir sind voller vergessener Regionen und Tage, und diese Tage werden zu Jahren. Tage hier und dort, die aufrührerische Regionen bilden." Die individuellen und kollektiven Schicksale sind vom Vergessen bestimmt – und hier kommt die oft verdeckte politische Dimension von Ruiz' Werk ans Tageslicht, etwa in Mémoire des apparances (1986). Auf die Beschwerde, seine Filme seien kalt und kopflastig, antwortete Ruiz: "Aus vergessenen Welten entstehen starke Emotionen." (Adrian Martin)

Eine gemeinsame Retrospektive der Viennale und des Österreichischen Filmmuseums

Folgende von Raúl Ruiz' Wegbegleiter*innen werden als Gäste erwartet: Produzent Paulo Branco (21. Oktober), Valeria Sarmiento (24. und 26. Oktober) und Ignacio Agüero (29. Oktober).
 
Während der Viennale gelten von 20. bis 31. Oktober 2023 im Filmmuseum gesonderte Ticketregelungen.

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