I cannibali (Die Kannibalen), 1969, Liliana Cavani

Liliana Cavani / Marco Bellocchio

11. Jänner bis 29. Februar 2024

Unser traditioneller Jahresauftakt mit italienischem Kino ist eine Doppel-Retrospektive zu Liliana Cavani (*1933) und Marco Bellocchio (*1939). Wir schließen damit direkt an unsere Filmschau zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini (und Zeitgenossen) im Vorjahr an: Bellocchio und Cavani repräsentieren die Nachfolgegenerationen von Filmemacher*innen aus der Emilia-Romagna, die in den 1960ern und 1970ern zu Weltruhm gelangten, indem sie (wie Pasolini) einen eigenwilligen Weg zwischen Autorenfilm und Populärkino einschlugen. "Unser Interesse galt einem neuen Kino, das die Probleme unserer Zeit behandelte. Wir interessierten uns für die Psychologie der Politik", brachte Cavani einige Gemeinsamkeiten später auf den Punkt. Ihr berühmter, in Wien gedrehter Skandalfilm The Night Porter / Il portiere di notte (Der Nachtportier, 1974) mit seiner sadomasochistischen Liebesgeschichte vor Holocaust-Hintergrund zwischen Dirk Bogarde und Charlotte Rampling kann als endgültige Zuspitzung dieser Definition betrachtet werden. Aber die Verbindungen sind tiefgreifender und umfassender: Es geht um ein Kino der Verunsicherung, das auf vielen Ebenen funktioniert – nicht nur psychologisch und politisch, sondern auch materialistisch und spirituell, bewusst mythologisch und oft satirisch. So hatte sich Bellocchio bereits mit seinem furiosen Spielfilmdebüt I pugni in tasca (Mit der Faust in der Tasche, 1965) als eine der führenden Stimmen dieses Aufbruchs im italienischen Filmschaffen etabliert, indem er mit grimmigem Witz von der Auslöschung einer dekadenten Bürgerfamilie durch den Sohn erzählte – wobei er im Landhaus der eigenen Familie und mit deren Geld drehte.
 
Nicht nur in der schillernden Ambivalenz, sondern auch in der Vielfalt der Zugänge sind Cavani und Bellocchio verbunden geblieben. "Mein Werk oszillierte immer schon zwischen Kino, Theater und Dokumentarfilm, um als Regisseur nicht eingeschränkt zu werden", hat Bellocchio zu Protokoll gegeben, und auf Cavani trifft bei allen Unterschieden im Detail Ähnliches zu. Beide waren nach Rom gegangen, um dort Regie zu studieren und realisierten 1961 ihre ersten Kurzfilme am Centro Sperimentale di Cinematografia. Cavani war nicht nur auf Jahre die einzige Frau im dortigen Regielehrgang, ein Wettbewerbssieg verschaffte ihr sogleich die Gelegenheit, im nationalen Fernsehen RAI zu arbeiten. Ihre ambitionierten historischen Dokumentarfilme bildeten die Basis für ihren Stil und erforschten Themen, die sie zeitlebens beschäftigen würden: Eine Studie über Widerstandskämpferinnen im Weltkrieg legte die Spur zu The Night Porter, 1966 konnte sie ihren ersten TV-Spielfilm über Franz von Assisi realisieren (mit Bellocchio in einer kleinen Nebenrolle als intellektueller Jünger, der gegen die Lehren des späteren Heiligen aufbegehrt!). Zu dieser Figur würde sie wiederholt zurückkehren, am prominentesten in Francesco (1989) mit Mickey Rourke.
 
Auch Cavanis erster Kinofilm Galileo (1968) wurde ursprünglich fürs Fernsehen gedreht, die Ausstrahlung wurde aber von der Zensur (als „antiklerikal“) untersagt, woraufhin sich ein Kinoverleih fand. Unter dem Eindruck der 68er-Proteste spitzte Cavani mit I cannibali (Die Kannibalen, 1969) ihre Erzählungen vom Konflikt mit der Macht noch weiter zu, indem sie Sophokles' Antigone ins Mailand der Gegenwart verlegte. Nach der Beschäftigung mit Mythos, Psychiatrie (L'ospite, 1972) und Spiritualität (im von Pasolini gelobten Yogi-Film Milarepa, 1973) brachte The Night Porter eine internationale Neuausrichtung von Cavanis Karriere durch Weltstars und Koproduktionen, wobei sie ihrer Vision treu blieb: "Meine Filme sind nicht historisch, sondern Filme über Ideen." So sorgte Al di là del bene e del male (Jenseits von Gut und Böse, 1977), ein erotisches Dreiecksdrama um Friedrich Nietzsche mit Erland Josephson und Dominique Sanda, erneut für Kontroversen, ebenso die Malaparte-Verfilmung
 
La pelle (Die Haut, 1981), ein schonungsloses Porträt von Chaos und Ausbeutung in Neapel am Ende des Zweiten Weltkriegs mit Marcello Mastroianni, Burt Lancaster und Claudia Cardinale. Parallel dazu hatte Cavani begonnen, Opern zu inszenieren, womit sie sich ab den 1990ern verstärkt beschäftigte, um nach dem herausragenden Highsmith-Krimi Ripley's Game (2002, mit John Malkovich) wieder fürs Fernsehen zu arbeiten. Mit L'ordine del tempo (Die Ordnung der Zeit, 2023) legte sie zuletzt doch noch ein überraschendes Kino-Comeback vor: einen gegen den Strich gebürsteten Weltuntergangsfilm, entspannt und von altersweiser Gelassenheit durchströmt.
 
Auch Bellocchio ist weiterhin aktiv und erfolgreicher denn je: Sein jüngster Film Rapito (Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes, 2023) kommt nach der Retrospektive auch regulär ins Kino, wie schon eine Reihe seiner Meisterwerke der letzten Dekade, etwa das unvergleichliche Mafia-Epos Il traditore (Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra, 2019). Es scheint, als wäre nach fast 60 Jahren die Zeit reif, Bellocchio als den bedeutendsten lebenden italienischen Regisseur zu entdecken. Trotz seines frühen Erfolgs firmierte er lange als eine Art unbekannte Größe am Rande der internationalen Filmkultur: Seine Werke reüssierten zwar auf den Festivals von Cannes bis Venedig und gewannen Preise, wurden aber nur sporadisch im regulären Verleihbetrieb sichtbar, während innerhalb Italiens kein Zweifel an seinem Weltrang herrschte. Ein Grund dafür könnte justament sein, dass sich Bellocchio stets konsequent mit den italienischen Zuständen beschäftigte, auch wenn er dabei Universales erzählte, während sich Regisseur*innen wie Cavani (oder Bernardo Bertolucci, der jüngste aus der inoffiziellen Emilia-Romagna-Gruppe) international ausrichteten. Dafür konnte Bellocchio (mit inzwischen über 50 Lang- und Kurzfilmen) eine Beständigkeit in seiner Arbeit aufrechterhalten, obwohl er keinen Hehl daraus machte, dass er sie im seelischen Krisenzustand schuf – jedenfalls bis er eine neue Partnerin in Francesca Calvelli fand, die seit 1994 als Schnittmeisterin sein Schaffen mitprägt.
 
Davor lässt sich Bellocchios Werk grob in zwei Phasen einteilen. Die erste könnte man als seinen langen Marsch durch die Institutionen bezeichnen – eine Reihe von Gruppenbildern, in denen er systematisch die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft demontiert: die Familie in I pugni in tasca, Partei (und Politik) in La Cina è vicina (China ist nahe, 1967), Medien (und Politik) im Politkrimi Sbatti il mostro in prima pagina (Knallt das Monstrum auf die Titelseite!, 1972), das Militär in Marcia trionfale (Triumphmarsch, 1975). Gerade in den beiden letztgenannten Filmen ist dabei schon eine Begabung Bellocchios besonders augenfällig, die er im Spätwerk zur Meisterschaft bringt: den packenden Zug von Genrekino mit der Vieldeutigkeit seiner Autorenvision zu verbinden – die Wucht des Melodrams kollidiert in Vincere (2009) mit der Geschichte von Mussolinis erster Frau und in Bella addormentata (Schlafende Schönheit, 2013) mit einem echten Euthanasiefall, der für politische Kontroversen sorgte, während Il traditore den Mafiafilm von innen nach außen stülpt.
 
Hatte sich Bellocchio zunächst quasi parallel zu Cavani durch soziale, mythische und spirituelle Zonen bewegt – sein militanter Kollektiv-Dokumentarfilm Matti da slegare (1975) kann auch als Antwort auf ihren von ihm als "zu bürgerlich" kritisierten L’ospite verstanden werden –, wandelte sich sein Schaffen unter dem Einfluss des umstrittenen antifreudianischen Psychoanalytikers Massimo Fagioli, an dessen Kollektivanalysen Bellocchio teilnahm. So begann erst dann der Einsatz von vieldeutigen Traumbildern, die längst ein Bellocchio-Markenzeichen sind. Im preisgekrönten Drama Salto nel vuoto (Der Sprung ins Leere, 1980) mit Michel Piccoli und Anouk Aimée wurden einige Fagioli-Konzepte buchstäblich illustriert, an drei weiteren Filmen arbeitete der Psychoanalytiker direkt mit, beginnend mit Il diavolo in corpo (Teufel im Leib, 1985), der wegen einer unsimulierten Sexszene auch zum Skandalfilm hochstilisiert wurde, woraufhin Bellocchio (wie schon zuvor Cavani) kurz in einen spekulativen Strudel zwischen Boulevardpresse-Häme und herablassendem Feuilleton geriet. Dass sich Bellocchio gerade in der Zusammenarbeit mit seinem Psychoanalytiker auch seinen eigenen Zweifeln stellte, wurde damals ebenso als suspekt empfunden wie seine marxistischen Wurzeln, obwohl er längst ein desillusioniertes Verhältnis zur Politik hatte.
 
Zudem fand man es schwer, Bellocchios Kino einzuordnen, weil es mit Kurswechseln und Aufbrüchen immer wieder verblüffte, obwohl seine Handschrift unverwechselbar blieb. Wie Cavani, die zuerst in Literatur promoviert hatte, vermochte sich Bellocchio bei Adaptionen die Stoffe – von Kleist bis Pirandello – ganz anzuverwandeln, noch stärker ausgeprägt als bei Cavani ist bei ihm (auch allein schon wegen des umfangreicheren Œuvres) der Wechsel zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm. Vor allem aber eint beide der Wille zum Widerspruch: die Auseinandersetzung mit der Macht und den Verhältnissen, deren Veränderung möglich wäre. Nirgendwo drückt sich das so erstaunlich aus wie in der Traumszene am Ende seines kühnen Kammerspiels Buongiorno, notte (2004) über die Aldo-Moro-Entführung, das die internationale Renaissance von Bellocchio einleitete.
 
Da lässt er eine alternative Zukunft aufblitzen: ein anderes Italien wäre möglich (gewesen). Über seine Rekonstruktion der Vergangenheit, hier ebenso wie in der Futurismus atmenden Faschismus-Aufarbeitung Vincere, hat Bellocchio einen hinreißenden Satz gesagt, der auch zu Cavani passen würde und aus dem sich folgern lässt, warum ihre Werke so vielschichtig sind: "Es ist alles wahrheitsgetreu und zugleich alles erfunden." (Christoph Huber)
 
Die Retrospektive zeigt das gesamte Kinowerk von Liliana Cavani, inklusive ihres neuen Films L'ordine del tempo (2023) als Österreich-Premiere, und den Großteil von Marco Bellocchios Filmen, soweit sie aufgrund von Rechte- und Kopienlage verfügbar sind. Cavani und Bellocchio werden als Gäste zur Retrospektive erwartet.
 
In Kooperation mit dem Italienischen Kulturinstitut Wien, der Cineteca Nazionale und Cinecittà