Ein zweites Leben
Thema und Variation im Film
14. Oktober bis 30. November 2016
Das dominante Bild des Kinos, heute, vermittelt den Eindruck einer armen Monokultur. Das ist die Formel: immer knapper aufeinander folgende Neuauflagen erfolgreicher Stoffe und Figuren-"Universen", serielle Fortsetzungen in Wiederholungsschleife. Das Industrie-Vokabular hat sich dabei in alle Bereiche des Kinodiskurses fortgepflanzt. Zum allgegenwärtigen Remake kommen Begriffe, die jegliche "Neuheit" mit dem bedrückenden Signum der Ideenlosigkeit versehen: Reboot, Sequel, Spin-off, Relaunch und zuletzt sogar Re-quel – Fortsetzung und Remake in einem.
Die Retrospektive Ein zweites Leben hält dieser Tendenz zur Gleichschaltung einen intensiven Rückblick auf jenen Formenreichtum entgegen, mit dem das Kino seit Anbeginn ältere Stoffe neu bearbeitet hat: eben nicht nur unter kommerziellem Kalkül, als alles verdrängende Wiederkehr des Immergleichen, sondern als eine Option unter vielen, wobei die scheinbare Ähnlichkeit in Sujet oder Idee den Blick schärft für die entscheidenden – die kinematografischen – Differenzen.
Am augenfälligsten ist dies bei Adaptionen derselben Literaturvorlage, die in verschiedenen Händen, Epochen, Ländern und Tonlagen zu schillern beginnen. Shakespeares Romeo and Juliet etwa, eines der meistverfilmten und -variierten Bühnenstücke, wird von Ernst Lubitsch in Romeo und Julia im Schnee als Stummfilmgroteske aufs Land verpflanzt, um ebendort in Romeo und Julia auf dem Dorfe (über den Zwischenschritt von Gottfried Kellers Novelle) als poetische Naturtragödie und Hauptwerk des Schweizer Kinos zu reüssieren. Dashiell Hammetts Red Harvest, in den späten 1920ern das Pionierwerk des Hardboiled-Krimis, gerät viel später zur heimlichen Vorlage für Schlüsselfilme ganz anderer Genres auf verschiedenen Kontinenten: Asien-Action in Kurosawas Yōjimbō, Italo-Western in Leones Für eine Handvoll Dollar und, als US-Krimi heimgekehrt, Independent-Kino-Renaissance in Miller's Crossing von den Coen-Brüdern.
Ähnlich vielfältig wird aus Emily Brontës berühmtem Roman William Wylers "klassische" Hollywood-Variante Wuthering Heights, Luis Buñuels surrealistisch himmelwärts geschossene Version Abismos de pasión und Jacques Rivettes paradox geisterhafte Modernisierung Hurlevent. Ein anderes Filmtrio zieht konsequent eine gesellschaftskritische Linie durch die Filmhistorie: Die Standesdünkel von Douglas Sirks amerikanischem Technicolor-Rausch-Melodram All That Heaven Allows (1955) transformiert Sirk-Verehrer Rainer Werner Fassbinder zur deutschen Gastarbeiter-Proletenpassion Angst essen Seele auf, Todd Haynes denkt sie mit Far From Heaven in die US-Fifties zurück, unter Betonung damals tabuisierter Aspekte wie Rassismus und Homosexualität.
Meisterregisseure wie Ozu oder Hitchcock verfilmen Frühwerke aus der Perspektive des reifen Alters nochmal, andere treten über Variationen in fruchtbaren Kontakt miteinander: Fritz Langs M (1931) erfährt zwei Dekaden später ein unterschätztes US-Remake durch Joseph Losey – für denselben, im US-Exil gestrandeten Produzenten, Seymour Nebenzahl. Alan Clarkes kompromissloser Killerfilm Elephant rund um den Nordirlandkonflikt inspiriert Gus Van Sants gleichnamigen Cannes-Sieger von 2003 über ein US-Schulmassaker – und Josef von Sternbergs verknappte Dostojewski-Verfilmung Crime and Punishment mit Peter Lorre trifft, im jüngsten Film der Schau, auf eine episch-freie Transposition aus den Philippinen: Lav Diaz' Norte, the End of History (2013).
Auch ganz andere Zugänge sind möglich: von der inspirierten Parodie, die das "ernste" Original in ganz berückender Weise würdigt (etwa der Comedy-Klassiker Airplane! im detaillierten Rückgriff auf das vergessene Himmelsmelodram Zero Hour!) bis zur Fortschreibung einer Kinofigur ein Vierteljahrhundert später, wie es Martin Scorsese in The Color of Money mit der Figur des (wieder) von Paul Newman gespielten Billardprofis aus The Hustler demonstriert. Mit dem Kleinstadtkrimi Violent Saturday und dem Bürgerkriegswestern The Raid verhandeln zwei auf den ersten Blick ganz anders geartete, aber gleichermaßen brillante B-Pictures 1954/55 dieselben Archetypen und Konstellationen (vermittelt auch über Autor Sydney Boehm und Darsteller Lee Marvin). Und 1953 bringen zwei große italienische Filmemacher völlig unabhängig voneinander die "Kameliendame" auf die Höhe der herben Nachkriegszeit: Michelangelo Antonioni und Vittorio Cottafavi.
Zu suchen bleibt stets das künstlerische Verfahren, das aus der Neubearbeitung etwas Eigenes macht, auch dort, wo es sich auf den ersten Blick um "Diebstahl" handelt. Quentin Tarantino serviert seine Rachefantasie Kill Bill: Vol. 1 unter dem extremen Einfluss des japanischen Kultfilms Lady Snowblood, und auch die bizarre, auf einem realen Fall beruhende Grundidee des preisgekrönten mexikanischen Films El castillo de la pureza kehrt im – ebenfalls preisgekrönten und als völlig originär gehandelten – griechischen Film Dogtooth fast unverändert wieder. Aber statt hier über Plagiate zu reden (und damit erst recht in einen einfallslos gleichförmigen Diskurs zu verfallen), kann man an diesen und allen anderen Beispielen der Retrospektive spüren, dass das Kino seine Themen und Motive nie einfach zu den Akten legt. Die Spielfilmgeschichte ist keine Buchhalterin: So man das Kino wirklich anzupacken versteht, wird es niemals aufhören, seinen Erzählungen und Erfindungen ein zweites, ein weiteres, ein immer wieder anderes Leben zu schenken.
Ein gemeinsames Projekt des Österreichischen Filmmuseums und der Viennale
Das dominante Bild des Kinos, heute, vermittelt den Eindruck einer armen Monokultur. Das ist die Formel: immer knapper aufeinander folgende Neuauflagen erfolgreicher Stoffe und Figuren-"Universen", serielle Fortsetzungen in Wiederholungsschleife. Das Industrie-Vokabular hat sich dabei in alle Bereiche des Kinodiskurses fortgepflanzt. Zum allgegenwärtigen Remake kommen Begriffe, die jegliche "Neuheit" mit dem bedrückenden Signum der Ideenlosigkeit versehen: Reboot, Sequel, Spin-off, Relaunch und zuletzt sogar Re-quel – Fortsetzung und Remake in einem.
Die Retrospektive Ein zweites Leben hält dieser Tendenz zur Gleichschaltung einen intensiven Rückblick auf jenen Formenreichtum entgegen, mit dem das Kino seit Anbeginn ältere Stoffe neu bearbeitet hat: eben nicht nur unter kommerziellem Kalkül, als alles verdrängende Wiederkehr des Immergleichen, sondern als eine Option unter vielen, wobei die scheinbare Ähnlichkeit in Sujet oder Idee den Blick schärft für die entscheidenden – die kinematografischen – Differenzen.
Am augenfälligsten ist dies bei Adaptionen derselben Literaturvorlage, die in verschiedenen Händen, Epochen, Ländern und Tonlagen zu schillern beginnen. Shakespeares Romeo and Juliet etwa, eines der meistverfilmten und -variierten Bühnenstücke, wird von Ernst Lubitsch in Romeo und Julia im Schnee als Stummfilmgroteske aufs Land verpflanzt, um ebendort in Romeo und Julia auf dem Dorfe (über den Zwischenschritt von Gottfried Kellers Novelle) als poetische Naturtragödie und Hauptwerk des Schweizer Kinos zu reüssieren. Dashiell Hammetts Red Harvest, in den späten 1920ern das Pionierwerk des Hardboiled-Krimis, gerät viel später zur heimlichen Vorlage für Schlüsselfilme ganz anderer Genres auf verschiedenen Kontinenten: Asien-Action in Kurosawas Yōjimbō, Italo-Western in Leones Für eine Handvoll Dollar und, als US-Krimi heimgekehrt, Independent-Kino-Renaissance in Miller's Crossing von den Coen-Brüdern.
Ähnlich vielfältig wird aus Emily Brontës berühmtem Roman William Wylers "klassische" Hollywood-Variante Wuthering Heights, Luis Buñuels surrealistisch himmelwärts geschossene Version Abismos de pasión und Jacques Rivettes paradox geisterhafte Modernisierung Hurlevent. Ein anderes Filmtrio zieht konsequent eine gesellschaftskritische Linie durch die Filmhistorie: Die Standesdünkel von Douglas Sirks amerikanischem Technicolor-Rausch-Melodram All That Heaven Allows (1955) transformiert Sirk-Verehrer Rainer Werner Fassbinder zur deutschen Gastarbeiter-Proletenpassion Angst essen Seele auf, Todd Haynes denkt sie mit Far From Heaven in die US-Fifties zurück, unter Betonung damals tabuisierter Aspekte wie Rassismus und Homosexualität.
Meisterregisseure wie Ozu oder Hitchcock verfilmen Frühwerke aus der Perspektive des reifen Alters nochmal, andere treten über Variationen in fruchtbaren Kontakt miteinander: Fritz Langs M (1931) erfährt zwei Dekaden später ein unterschätztes US-Remake durch Joseph Losey – für denselben, im US-Exil gestrandeten Produzenten, Seymour Nebenzahl. Alan Clarkes kompromissloser Killerfilm Elephant rund um den Nordirlandkonflikt inspiriert Gus Van Sants gleichnamigen Cannes-Sieger von 2003 über ein US-Schulmassaker – und Josef von Sternbergs verknappte Dostojewski-Verfilmung Crime and Punishment mit Peter Lorre trifft, im jüngsten Film der Schau, auf eine episch-freie Transposition aus den Philippinen: Lav Diaz' Norte, the End of History (2013).
Auch ganz andere Zugänge sind möglich: von der inspirierten Parodie, die das "ernste" Original in ganz berückender Weise würdigt (etwa der Comedy-Klassiker Airplane! im detaillierten Rückgriff auf das vergessene Himmelsmelodram Zero Hour!) bis zur Fortschreibung einer Kinofigur ein Vierteljahrhundert später, wie es Martin Scorsese in The Color of Money mit der Figur des (wieder) von Paul Newman gespielten Billardprofis aus The Hustler demonstriert. Mit dem Kleinstadtkrimi Violent Saturday und dem Bürgerkriegswestern The Raid verhandeln zwei auf den ersten Blick ganz anders geartete, aber gleichermaßen brillante B-Pictures 1954/55 dieselben Archetypen und Konstellationen (vermittelt auch über Autor Sydney Boehm und Darsteller Lee Marvin). Und 1953 bringen zwei große italienische Filmemacher völlig unabhängig voneinander die "Kameliendame" auf die Höhe der herben Nachkriegszeit: Michelangelo Antonioni und Vittorio Cottafavi.
Zu suchen bleibt stets das künstlerische Verfahren, das aus der Neubearbeitung etwas Eigenes macht, auch dort, wo es sich auf den ersten Blick um "Diebstahl" handelt. Quentin Tarantino serviert seine Rachefantasie Kill Bill: Vol. 1 unter dem extremen Einfluss des japanischen Kultfilms Lady Snowblood, und auch die bizarre, auf einem realen Fall beruhende Grundidee des preisgekrönten mexikanischen Films El castillo de la pureza kehrt im – ebenfalls preisgekrönten und als völlig originär gehandelten – griechischen Film Dogtooth fast unverändert wieder. Aber statt hier über Plagiate zu reden (und damit erst recht in einen einfallslos gleichförmigen Diskurs zu verfallen), kann man an diesen und allen anderen Beispielen der Retrospektive spüren, dass das Kino seine Themen und Motive nie einfach zu den Akten legt. Die Spielfilmgeschichte ist keine Buchhalterin: So man das Kino wirklich anzupacken versteht, wird es niemals aufhören, seinen Erzählungen und Erfindungen ein zweites, ein weiteres, ein immer wieder anderes Leben zu schenken.
Ein gemeinsames Projekt des Österreichischen Filmmuseums und der Viennale
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