Tsugaru Jongara-bushi (Tsugaru Folk Song), 1973, Saito Koichi

Art Theatre Guild. Unabhängiges Japanisches Kino 1962-1984

4. bis 30. Oktober 2003
 
Die gemeinsame Retrospektive der Viennale und des Filmmuseums widmet sich heuer einem bedeutenden Filmland und einer markanten Ära des modernen Kinos: Japan und die Erneuerungs-bewegungen der sechziger und siebziger Jahre. Die Schau, erarbeitet und kuratiert von Roland Domenig, gibt anhand von rund 35 Filmen einen facettenreichen Einblick in die kulturellen und politischen Umbrüche, die Japan um 1968 erfassten.
 
Die Produktions- und Verleihfirma ATG – Art Theatre Guild war ab Mitte der 60er Jahre zentrale Heimstätte des unabhängigen japanischen Autorenfilms. Während die marktbeherrschenden Filmstudios auf bewährte Formeln setzten und Neuerungen reserviert gegenüberstanden, propagierte ATG ein innovatives Kino der Vielfalt. In diesen Filmen, die im Westen teilweise völlig unbekannt sind, verbinden sich die reichen Bild- und Erzähltraditionen Japans mit neuen, zeitgenössischen Sujets: der rebellischen Jugendkultur, Terrorismus und Attacken auf den Staat, scharfer Kritik am „gangsteristischen“ Kapitalismus und extremen Formen der Sexualität.
 
ATG wurde 1961 als Verleih mit angeschlossener Kinokette gegründet. Neben Filmklassikern, die in Japan noch nicht bekannt waren, etwa von Eisenstein, Buñuel oder Bresson, verlieh ATG auch die aktuellen Filme der jungen Generation – Godard, Cassavetes, Tarkowskij – und trug so wesentlich zur Bildung eines filmgeschichtlichen Bewusstseins bei. Man brachte aber auch unabhängige Filme japanischer Regisseure in die Kinos, z.B. Meisterwerke von Teshigahara Hiroshi, Mishima Yukio, Suzuki Seijun und Itami Jûzô.
 
1967 begann ATG selbst Filme zu produzieren und wurde innerhalb kurzer Zeit zur wichtigsten Produktionsgesellschaft für das künstlerische Kino. Zu Beginn standen die Regisseure der japanischen Nouvelle Vague im Mittelpunkt, die bei ATG nach dem Bruch mit der konservativen Industrie eine neue Heimat fanden. ATG ermöglichte viele Hauptwerke dieser „Neuen Welle“ – Ôshima Nagisas Death by Hanging, Boy und The Ceremony; Yoshida Yoshishiges Eros plus Massacre und Coup d’etat; Double Suicide von Shinoda Masahiro; Nanami: The Inferno of First Love von Hani Susumu oder Imamura Shoheis A Man Vanishes.
 
ATG beruhte auf einem einzigartigen Produktionssystem. Die eingereichten Projekte wurden von einer unabhängigen Jury aus führenden Filmkritikern allein nach künstlerischen Gesichtspunkten ausgewählt. Die Budgets waren gering und wurden zur Hälfte von den Regisseuren beigesteuert, die freie Hand bei der Verwirklichung ihrer Visionen hatten. Vor diesem Hintergrund produzierte ATG eine Reihe äußerst radikaler Filme von Matsumoto Toshio (Funeral Procession of Roses) oder Jissôji Akio (This Transient Life) sowie zentrale Werke von Terayama Shûji, dem Star der japanischen Avantgarde, dem neben Ôshima Nagisa einer der Schwerpunkte dieser Retrospektive gilt.
 
Die Filme wurden in den Kinos von ATG gezeigt, deren Herzstück das Shinjuku-Bunka-Kino in Tokyo war – bis zu seiner Schließung im Jahr 1974 ein spartenübergreifendes Zentrum der japanischen Avantgardebewegung.
 
Nachdem sich die aufgeheizte politische Lage, die die frühen Filme von ATG stark prägte, beruhigt hatte, wandte sich die Art Theatre Guild in den 70er Jahren verstärkt dem Nachwuchs zu und verhalf jungen Regisseuren wie Hasegawa Kazuhiko (Young Murderer) oder Ishii Sôgô (A Crazy Family) zu ihren ersten großen Spielfilmen. ATG ermöglichte visionären Filmemachern wie Wakamatsu Kôji (Ecstasy of the Angels), aus dem Ghetto des Sexploitation-Kinos auszubrechen, und altgedienten Studioregisseuren wie Ichikawa Kon (The Wanderers) oder Okamoto Kihachi (The Human Bullet), ihre lang gehegten Herzensprojekte zu realisieren.
 
1986 stellte ATG seine Filmproduktion, 1992 auch die Verleihtätigkeit ein. Neue Produzenten, Verleiher und Kinobetreiber setzten den Weg eines kompromisslos unabhängigen Kinos fort. Diesem jungen japanischen Film der Gegenwart, der seit Anfang der 90er Jahre regelmäßig auf der Viennale vertreten ist, stellt die Retrospektive nun jene reiche Tradition zur Seite, ohne die er nicht denkbar wäre.
 
Die Retrospektive, unterstützt von der Japan Foundation, ist die erste umfassende Darstellung des ATG-Kinos außerhalb Japans. Ausgehend von Wien wird die Schau ab November in weiteren Städten Europas zu sehen sein.
 
Im Rahmen der Retrospektive findet am 20. und 21. Oktober im Filmmuseum ein vom Akademischen Arbeitskreis Japan veranstaltetes, internationales Symposium über die Veränderungen im japanischen Kino der 60er und frühen 70er Jahre statt.
 
Der Katalog, zusammengestellt von Roland Domenig, ist ab 3. Oktober erhältlich und bietet vielfältige Hintergrundmaterialien, Analysen und Texte zu den einzelnen Filmen und Regisseuren der Retrospektive sowie zur Geschichte der Art Theatre Guild.
 
Zu Gast im Filmmuseum waren u.a. ATG-Regisseur Wakamatsu Kōji und Produzent Kuzui Kinshirō.
Zusätzliche Materialien