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Di, 24. Juni 2025

P. Adams Sitney, 1944 – 2025

Mit großer Trauer nehmen wir Abschied von P. Adams Sitney, einem der prägendsten Filmhistoriker und Theoretiker des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Er verstarb am 8. Juni 2025 nach kurzer, schwerer Krankheit in Rhode Island. Sitney (geboren 9. August 1944 in New Haven, Connecticut), schloss an der renommierten Yale University 1967 sein Studium der Klassischen Philologie ab, bevor er dort später auch in vergleichender Literaturwissenschaft promovierte. Schon in den späten 1960er Jahren trat er als einer der wichtigsten Chronisten und Mitgestalter des amerikanischen Avantgardefilms hervor. 1970 war Sitney Mitbegründer der Anthology Film Archives in New York – gemeinsam mit Jonas Mekas, Peter Kubelka, Stan Brakhage und Jerome Hill. Die Konzeption der sogenannten "Essential Cinema"-Reihe, deren Kanonisierung experimenteller Filmkunst bis heute Diskussionen anregt, war maßgeblich von seiner Hand geprägt.

Mit dem 1974 erstmals erschienenen Buch Visionary Film: The American Avant-Garde 1943–1978 legte Sitney einen Meilenstein der Filmhistoriografie vor, der seither in erweiterten Ausgaben Generationen von Filmschaffenden, Wissenschaftler*innen und Kurator*innen geprägt hat. Besonders einflussreich war seine Begriffsbildung des "Structural Film". Seine präzise analytische Kategorisierung wurde zum Ausgangspunkt zahlloser filmtheoretischer Auseinandersetzungen. Neben seiner akademischen Tätigkeit – zunächst an der New York University und an der Cooper Union, später über viele Jahre als Professor für Visual Arts am Lewis Center for the Arts der Princeton University – war Sitney ein leidenschaftlicher Vermittler des Avantgardefilms in Theorie und Praxis.

Für das Österreichische Filmmuseum war P. Adams Sitney eine Schlüsselfigur. Ende der 1970er Jahre besuchte er Wien für eine fünftägige Lecture-Reihe über den amerikanischen Experimentalfilm, die auf das damalige Publikum tiefen Eindruck hinterließ, darunter auch auf den jungen Peter Tscherkassky: "Wir schreiben den Januar 1978, und meine Sicht der Welt bzw. des Kinos änderte sich schlagartig und fundamental. Sitney, einflussreichster Chronist und Wegbegleiter des amerikanischen Avantgardefilms, präsentierte – nebst Werken von Dreyer, Bresson, Vertov, Dowschenko et al. – die klassische europäische Avantgarde und das New American Cinema in seiner ganzen Fülle: an fünf Tagen, mit bis zu sechs Stunden Filmvorführung, gefolgt von jeweils zweistündigen Lectures. […] P. Adams Sitneys Buch Visionary Film: The American Avant-Garde 1943-1978 geriet mir in der Folge zu einer Art Bibel (18 Jahre später versah Sitney dies über und über bekritzelte und völlig zerfledderte Exemplar mit einer Widmung; das transformierte die Bibel zur Reliquie".“ (Peter Tscherkassky, 2005, im gleichnamigen Buch, FilmmuseumSynemaPublikationen Band 2, S. 103).

Sitney kehrte im Lauf der Jahrzehnte mehrfach nach Wien zurück: als Gastredner, als Mitgestalter von Retrospektiven und nicht zuletzt als Autor. Für unseren Jubiläumsband Fünfzig Jahre Österreichisches Filmmuseum (1964–2014) verfasste er einen englischsprachigen Essay, der das Haus als "essential site of resistance" gegen das Vergessen bezeichnete. Diese Worte spiegeln nicht nur seine Wertschätzung für die Institution wider, sondern auch sein Verständnis des Filmmuseums als aktiven Ort kulturellen Widerstands und intellektuellen Austauschs.

Mit dem Tod von P. Adams Sitney verliert die Welt des Kinos einen ihrer bedeutendsten Theoretiker. Seine Schriften, seine Lehre und seine unermüdliche Arbeit im Dienste des Avantgardefilms werden weiterleben – nicht zuletzt in den Archiven, Kinos und Köpfen, die er inspiriert hat. 

In memoriam P. Adams Sitney veröffentlichen wir die Aufzeichnung der fünfteiligen Lecture von 1978 in ihrer vollen Länge auf unserem YouTube-Kanal und machen auch seinen Beitrag "Birthday Reflections" in unserem Jubiläumsband Das sichtbare Kino von 2014 als PDF zugänglich.