Jean Renoir (rechts) in

Jean Renoir
Das Gesamtwerk

1. Dezember 2006 bis 8. Jänner 2007
 
Zum Ausklang des Jahres 2006 würdigt das Österreichische Filmmuseum in einer groß angelegten Schau jenen Künstler, der wie kein anderer den Anspruch hat, ein "Mozart des Kinos" genannt zu werden – mit seiner unnachahmlichen Verbindung von Leichtigkeit und Ernst, seiner zutiefst von der französischen Aufklärung bestimmten Ideenwelt, der subtilen, heiteren, bitteren Darstellung der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und mit seinen bewegenden Erzählungen über das Sterben und die Vergänglichkeit. In gewisser Weise ist das Werk von Jean Renoir ein Schlüssel zum gesamten Kino.
 
Renoir (1894-1979), Sohn des impressionistischen Malers Pierre-Auguste Renoir, hat in seinen Filmen eine einzigartige Freiheit erlangt, sowohl im Umgang mit den filmischen Stilmitteln und dem Nebeneinander unterschiedlichster Tonlagen wie auch in der kollektiven, gemeinschaftlichen Entwicklung vieler seiner besten Projekte.
 
Zuletzt war dies auch eine Freiheit von den "Gesetzen" des Marktes: Nur ein einziger seiner Filme (der pazifistische Klassiker La Grande Illusion, 1937) war ein großer Kassenerfolg. Aber dank der außerordentlichen Lebendigkeit, die seine Werke weit über ihr Entstehungsdatum hinaus bewahrt haben, wurde Renoirs Bedeutung immer wieder aufs Neue bestätigt.
 
Besonders wichtig war dabei die Vorreiterrolle, die ihm von den angehenden Filmemachern der Nouvelle Vague zuerkannt wurde – die Idee filmischer Autorenschaft, die politique des auteurs wurde nicht zuletzt anhand von Renoirs Filmen entwickelt, anhand ihrer Verbindung von Komplexität und Spontaneität.
 
Prototypisch etwa die Aussage von Alain Resnais über Renoirs La Régle du jeu (1939): "Die überwältigendste Erfahrung, die ich je im Kino hatte". Am Schicksal dieses Films, der bei seinem Erscheinen kurz vor Kriegsbeginn heftig angefeindet wurde und für einen Skandal sorgte, mittlerweile aber als eines der Meisterwerke des Kinos schlechthin gilt, lässt sich die Rezeption Renoirs am sinnfälligsten ablesen.
 
Das zweite entscheidende Element von Renoirs Schaffen ist seine Faszination für die Wirklichkeit: Seinen frühen Tonfilm La Chienne (1931) dreht er ganz radikal mit Direktton auf den Straßen; mit der (neo-)veristischen Pioniertat Toni (1935) verfilmt er "eine Geschichte aus dem Lokalteil, die ich für die Leinwand kaum veränderte".
 
Und auch der Poetische Realismus des französischen Vorkriegskinos ist ganz entscheidend durch seine Filme (z. B. La Bête humaine oder La Nuit du carrefour) geprägt. Dennoch wäre es ein Missverständnis, Renoir als simplen Realisten einzuordnen. Seine Karriere umspannt einen Großteil der kinematografischen Entwicklung im 20. Jahrhundert, von der Avantgarde der 1920er Jahre und ihren explizit artifiziellen Experimenten bis zur Moderne der 50er und 60er Jahre, die er auf seine Art begleitet.
 
Es handelt sich dabei um eine kontinuierliche Schaffensbewegung, die Renoirs eigentliches künstlerisches Projekt deutlich macht: eine Ästhetik, die der (versteckten) Vielfalt der Wirklichkeit gerecht zu werden vermag. "Als mein tiefstes Ziel sehe ich die Suche nach märchenhaften Elementen in einer höchst banalen Alltagswelt."
 
Bezeichnenderweise führen bei Renoir gerade jene Beschwörungen der geliebten Natur zum rauschhaftesten Erlebnis, in denen er sich ganz einem strahlenden Impressionismus verschreibt – schwarzweiß glänzend in Une partie de campagne (1936), farbensatt in Le Déjeuner sur l’herbe (1959).
 
Das Zusammenspiel von Leben und Kunst, von Wahrheit und Künstlichkeit, das Renoir anstrebte, darf Anna Magnani (natürlich eine Schauspielerin darstellend) in der endgültigen Reflexionsanordnung zum Thema, The Golden Coach (1953), als Frage auf den Punkt bringen: "Wo beginnt das Theater? Wo hört das Leben auf?"
 
In 46 Jahren und fast ebenso vielen Filmen hat Jean Renoir diese Fragen vermessen und dabei stets versucht, "Menschen zu entdecken": Von seiner ersten (Co-)Regiearbeit Une vie sans joie (1924), entstanden aus purer Kinobegeisterung (vor allem für Erich von Stroheim, der später Renoirs Freund und Mitarbeiter werden sollte), bis zur abgeklärten Bilanz einer Karriere: Le Petit Théâtre de Jean Renoir (1970).
 
Dazwischen liegt die Geschichte des Kinos: prächtige "Film-Romane" (Nana nach Zola, 1926) und trickreiche Miniaturen (La Petite Marchande d’allumetes nach H. C. Andersen, 1928), in den 30er Jahren eine Reihe großer Genre-Arbeiten und Literaturverfilmungen, dann zunehmend kritische Zeitbilder und eine Allianz mit der linken Volksfront, kulminierend in La Vie est à nous und Le Crime de Monsieur Lange.
 
Die Flucht vor dem Faschismus bringt Renoir nach Hollywood, wo er fast eine Dekade lang versucht, seine freie Arbeitsweise mit den dortigen Studio-Beschränkungen auszusöhnen, und dem System zumindest zwei Meisterwerke abtrotzt, This Land is Mine (1943) und The Southerner (1945).
 
Der Weg nach Hause und zum großen Spätwerk führt über Indien, wo ein Film entsteht, dessen absolute Entspanntheit, beiläufig berauschende Technicolor-Fotografie und – vor allem – Demut und Gleichmut das Genie Renoirs auf den Punkt bringen: The River (1951), Film über das Leben am Fluss und über den Fluss der Welt, ist auch das Meisterstück einer Kunst, die ihr Ziel in der steten Bewegung sucht; im Kampf gegen die Erstarrung.